Oh Boy

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Oh Boy – Originaltitel: Oh Boy – Regie: Jan-Ole Gerster – Drehbuch: Jan-Ole Gerster – Kamera: Philipp Kirsamer – Schnitt: Anja Siemens – Musik: The Major Minors und Cherilyn MacNeil – Darsteller: Tom Schilling, Ulrich Noethen, Michael Gwisdek, Marc Hosemann, Friederike Kempter, Justus von Dohnányi, Katharina Schüttler, Andreas Schröders, Arnd Klawitter, Martin Brambach, Katharina Hauck, Frederick Lau, Steffen Jürgens, Robert Hofmann, Inga Birkenfeld u.a. – 2012; 85 Minuten

Inhaltsangabe

"Oh Boy" handelt von dem Unternehmer­sohn Niko, der sein Jura-Studium abge­brochen hat, in der Konsum- und Leistungs­gesellschaft keinen Platz für sich findet und orientierungslos durch Berlin treibt. Einen Tag lang schauen wir ihm zu. Ein zynischer MPU-Psychologe treibt ihn mit Fangfragen in die Enge. Sein Vater demütigt ihn und sperrt ihm das Konto. Niko trifft eine Mitschülerin wieder, die früher fettleibig war und noch immer darunter leidet, dass sie deshalb verhöhnt wurde. Ein alter Mann erzählt ihm von der Pogromnacht 1938 ...
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Kritik

Aus prägnanten und originellen Episoden, aber auch mit besonde­rem Gespür für Dynamik und Rhythmus hat Jan-Ole Gerster die Tragikomödie "Oh Boy" meisterhaft komponiert. Ebenso überzeugend sind die schauspielerischen Leistungen.
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Der Berliner Unternehmersohn Niko Fischer (Tom Schilling) ist Ende 20. Vor zwei Jahren brach er sein Jurastudium ab. An diesem Morgen steigt er aus Ellis (Katharina Schüttler) Bett. Sie bietet ihm an, noch schnell Kaffee zu kochen, aber er will nur so rasch wie möglich weg und behauptet, viel zu tun zu haben. Dabei lebt er seit dem Studienabbruch nur in den Tag hinein und von den 1000 Euro, die ihm sein Vater jeden Monat überweist.

Weil er zum wiederholten Mal mit Alkohol am Steuer erwischt wurde, muss er an diesem Vormittag zur Medizinisch Psychologischen Untersuchung (MPU). Der Psychologe (Andreas Schröders) macht sich einen Spaß daraus, Niko mit Fang- und Suggestivfragen in die Enge zu treiben und ihm am Ende höhnisch mitzuteilen, dass er den Führerschein wegen „emotionaler Unausgeglichenheit“ vorerst nicht zurückbekommen werde.

Enttäuscht geht Niko in einen Coffee Shop. Als er eine Tasse Kaffee bestellt, fragt ihn die Bedienung (Katharina Hauck) nach der gewünschten Kaffeezubereitung (Cappuccino, Latte macchiato …) sowie Kaffeesorte und -provenienz. Niko möchte nichts weiter als eine Tasse normalen Kaffee, aber das gilt hier als ausgefallenerWunsch. Die Bedienung wundert sich auch darüber, dass er weder Zucker noch Milch im Kaffee haben möchte („Wir haben auch Sojamilch“). Endlich steht eine Tasse dampfenden schwarzen Kaffees vor ihm. Aber da erfährt Niko, dass der Preis um einiges höher als erwartet ist. Weil er nicht genügend Geld bei sich hat und die Bedienung nach einem Blick auf ihren Chef (Tim Wustrack) nicht mit sich handeln lässt, geht Niko zum nächsten Bankautomaten, ohne Kaffee getrunken zu haben. Während er darauf wartet, Geld abheben zu können, wirft er die übrig gebliebenen Münzen einem Bettler in die Büchse. Aber seine EC-Karte wird eingezogen.

Daraufhin ruft er seinen Vater an. Eine Bedienstete hebt ab, und Niko bittet sie, seinem Vater auszurichten, dass er ihn sprechen wolle.

In der Mietwohnung, in die Niko vor ein paar Wochen einzog und in der noch seine drei oder vier Umzugkartons unausgepackt stehen, taucht der Nachbar Karl Speckenbach (Justus von Dohnányi) auf. Er bringt einen Flachmann und von seiner Frau gebratene Buletten mit. Zuerst schnüffelt er herum, dann bricht er plötzlich weinend zusammen und vertraut Niko an, dass zwischen ihm und seiner Frau seit fünf Jahren, seit ihr beide Brüste amputiert werden mussten, nichts mehr läuft. Sie koche nur noch, klagt er.

Kurz darauf wird Niko von seinem Freund Matze (Marc Hosemann) mit dem Auto abgeholt. Sie fahren zu einer Kneipe. Dort trifft Niko überraschend seine frühere Mitschülerin Julika Hoffmann (Friederike Kempter). Er erkennt sie kaum wieder, denn als Jugendliche war sie übergewichtig und wurde deshalb von ihm und den anderen verspottet. Nach einem Suizidversuch in der neunten Klasse kam sie allerdings in ein Internat für Fettleibige, und inzwischen hat sie längst eine gute Figur. Als sie hört, dass Matze Schauspieler werden möchte, lädt sie die beiden Männer zu der Theaterperformance „Körperfeind“ am Abend ein und verspricht, an der Kasse zwei Freikarten zu hinterlegen.

Als Nächstes fährt Matze mit seinem Freund zu einem Set, an dem ein Film über das „Dritte Reich“ gedreht wird. Matzes Freund Phillip Rauch (Arnd Klawitter) spielt einen NS-Offizier, der seine jüdische Freundin Hannah (Inga Birkenfeld) versteckt und ihr so das Leben rettet. Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes kann sie ihr Versteck verlassen, aber nun muss er untertauchen. – Matze spricht mit den Filmemachern und hofft, endlich auch mal eine Rolle zu bekommen.

Endlich meldet sich Nikos Vater und bestellt ihn zum Golfplatz. Walter Fischer (Ulrich Noethen) hält sich dort mit seinem devoten Assistenten Jörg Schneider (Leander Modersohn) auf. Der arrogante Unternehmer genießt es, nicht nur Schneider, sondern auch seinen Sohn zu demütigen. Er zwingt Niko, ein paar Schläge auszuführen, nur um dessen Körperhaltung kritisieren zu können. Zwischendurch weist er ihn darauf hin, dass Schneider ein Jahr jünger sei, aber sein Jurastudium bereits abgeschlossen habe. Walter Fischer tut so, als wisse er nicht, dass Niko sein Studium vor zwei Jahren abbrach. Erst als dieser ihn auf das Problem mit der eingezogenen EC-Karte anspricht, teilt er ihm mit, dass er am Vortag einen Jura-Professor getroffen und dabei von Nikos Abbruch erfahren habe. Daraufhin sperrte er das Konto, und es wird auch keine monatlichen Zahlungen mehr geben. Was Niko in den zwei Jahren gemacht habe, fragt er. „Ich habe nachgedacht“, lautet die Antwort. Bevor Walter Fischer seinem Assistenten zum Wagen folgt, wirft er seinem Sohn verächtlich ein paar kleine Geldscheine hin.

Niko will mit der U-Bahn fahren, aber der Automat ist kaputt. Prompt wird er beim Schwarzfahren erwischt. Die beiden Kontrolleure Jörg und Stefan (Martin Brambach, Rolf Peter Kahl) bestehen darauf, dass er sich ausweist und 40 Euro zahlt. Niko gelingt es, ihnen davonzulaufen.

Am Abend will er mit Matze in die Theaterperformance „Körperfeind“. Unterwegs fährt Matze noch bei dem Drogendealer Marcel (Theo Trebs) vorbei, um ein bisschen Stoff zu besorgen. Währenddessen unterhält sich Niko mit Marcels dementer Großmutter, Frau Baumann (Lis Böttner), und lässt sich ihren elektrisch verstellbaren Fernsehsessel vorführen.

Zur Veranstaltung kommen Niko und Matze zu spät. Erst nach längerem Zureden gibt ihnen der Mann an der Kasse (Alexander Altomirianos) die beiden von Julika Hoffmann hinterlegten Freikarten und lässt sie hinein. In einem Ausdruckstanz auf der Bühne verarbeitet Julika mit Schreien und Verzerrungen ihr gestörtes Verhältnis zum Körper.

Nach der Vorstellung empört sich Ralf (Steffen Jürgens), der Autor und Choreograf des Stücks darüber, dass Matze im Publikum kicherte.

Auf der Straße werden Niko, Matze und Julika von drei Kerlen (Frederick Lau, Jakob Bieber, Robert Hofmann) angemacht. Niko und Matze wollen weitergehen, aber Julika stellt sich den Betrunkenen entgegen und provoziert sie so lange, bis sie gewalttätig werden. Niko geht dazwischen, wird aber zu Boden geschlagen. Als Julika später seine Verletzungen im Gesicht säubert, erklärt sie ihm, sie sei als Schülerin fortwährend wegen ihres Aussehens gemobbt worden und lasse sich seither nichts mehr gefallen. Beim Liebesspiel fordert sie ihn auf, zu rufen: „Ich will das kleine dicke Mädchen ficken!“ Daraufhin zieht Niko sich zurück und sagt, er könne ihr nicht bei der Vergangenheitsbewältigung helfen. Julika wirft ihn enttäuscht hinaus.

In der nächsten Kneipe stellt Niko sich an den Tresen. Ein alter, angetrunkener Berliner (Michael Gwisdek) namens Friedrich spricht ihn an: „Bist’n einsamer Wolf, wa?“ Niko versucht ihn abzuweisen: „Ich möchte jetzt lieber allein sein.“ Friedrich redet jedoch weiter und sagt, er sei 60 Jahre lang fort gewesen, jetzt aber wieder da. Dann erzählt er, wie er als Schüler vor dem Unterricht stramm stehen und den Arm zum Hitlergruß hochreißen musste. Eines Nachts holte sein Vater ihn aus dem Bett, ging mit ihm auf die Straße und drückte ihm ein paar Pflastersteine in die Hand. Dann spornte er ihn dazu an, Scheiben jüdischer Geschäfte einzuwerfen. Andere Passanten machten es nach. Friedrich weinte, weil er gerade Radfahren gelernt hatte und glaubte, in der mit Glasscherben übersäten Straße nicht mehr fahren zu können. – Schließlich verlässt der alte Mann die Kneipe. Auf dem Trottoir bricht er zusammen. Niko fährt in dem Sanitätswagen mit, der Friedrich in die Charité bringt und wartet dort, bis ihm eine Krankenschwester (Sanne Schnapp) sagt, dass der Patient gestorben sei und keine Angehörigen mehr gehabt habe.

Am Getränkeautomaten im Krankenhaus erhält Niko endlich einen Becher schwarzen Kaffee.

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Die Tragikomödie „Oh Boy“ von Jan-Ole Gerster handelt von einem jungen Mann, der sein Studium abgebrochen hat, in der Konsum- und Leistungsgesellschaft keinen Platz für sich findet und orientierungslos durch Berlin treibt. „Kennst du das Gefühl, dass dir die Leute um dich herum merkwürdig erscheinen? Und je länger du darüber nachdenkst, desto klarer wird dir, dass nicht die Leute, sondern du selbst das Problem bist?“, sagt er einmal. Einen Tag lang schauen wir ihm zu.

Die Struktur ist die eines Episodenfilms. Der Protagonist Niko Fischer ist zwar in jeder Szene zu sehen (deshalb ist „Oh Boy“ nicht wirklich ein Episodenfilm), aber mit Ausnahme von Matze und Julika spielt keine Figur in mehr als einer Episode mit. „Oh Boy“ ist jedoch alles andere als eine holprige Aneinanderreihung von Szenen: Mit einem außergewöhnlichen Gespür für Dynamik und Rhythmus hat Jan-Ole Gerster einen elegant fließenden Film gedreht.

Die einzelnen Szenen sind pointiert, prägnant und originell. Sowohl in den eher beklemmenden als auch in den komischen Passagen trifft Jan-Ole Gerster genau den richtigen Ton. Zwischendurch streut er auch Satiren ein, etwa während der Dreharbeiten zu einem Film über das „Dritte Reich“ oder bei einer ambitionierten Theaterperformance. Ebenso gelungen ist der Running Gag mit dem schwarzen Kaffee, den Niko am Anfang verschmäht und am Ende endlich trinken kann.

Mit Tom Schilling ist die Hauptrolle ideal besetzt. Aber Jan-Ole Gerster hat sich noch eine Reihe weiterer höchst interessanter Figuren ausgedacht, die allesamt überzeugend dargestellt werden: etwa die Coffee-Shop-Bedienung (Katharina Hauck), der Nachbar Karl Speckenbach (Justus von Dohnányi) und der todernste Bühnenautor Ralf (Steffen Jürgens). Besonders hervorzuheben sind die von Ulrich Noethen und Michael Gwisdek verkörperten Figuren und die von ihnen gezeigten schauspielerischen Glanzleistungen.

„Oh Boy“ ist ein Schwarz-Weiß-Film in brillanten Bildern (Kamera: Philipp Kirsamer). Auch der Schnitt (Anja Siemens) ist perfekt.

Für den jazzigen Sound-Track wurden The Major Minors und Cherilyn MacNeil am 26. April 2013 im Berliner Friedrichstadt-Palast mit dem Deutschen Filmpreis für die Beste Filmmusik ausgezeichnet. „Lolas“ gab es für „Oh Boy“ darüber hinaus in den Kategorien Regie (Jan-Ole Gerster), Drehbuch (Jan-Ole Gerster), Hauptdarsteller (Tom Schilling) und Nebendarsteller (Michael Gwisdek).

Es ist kaum zu glauben, dass es sich bei diesem meisterhaften Film um eine Abschlussarbeit an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin handelt.

Die Dreharbeiten für „Oh Boy“ fanden vom 7. Juni bis 10. Juli 2010 in Berlin statt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

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