Wilhelm Genazino : Abschaffel

Abschaffel
Abschaffel Originalausgabe: Rowohlt Verlag, Reinbek 1977 ISBN: 3-499-25085-3, 123 Seiten Abschaffel, Die Vernichtung der Sorgen, Falsche Jahre Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2002 ISBN: 3-423-13028-8, 571 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine Handlung im engeren Sinne gibt es in dem Roman "Abschaffel" nicht. Der Protagonist, ein 30-jähriger Büroangestellter, treibt als Einzelgänger durchs Großstadtleben, gelangweilt und jedem Impuls lustlos folgend. Er beobachtet andere Menschen und ärgert sich über Nichtigkeiten. Dass Abschaffel weder Erfolgsmensch noch Versager ist, gilt sowohl für sein Berufs- als auch für sein Sexualleben ...
mehr erfahren

Kritik

Neben Banalitäten schildert Wilhelm Genazino auch, was Abschaffel an anderen Menschen beobachtet, und da entsteht die eine oder andere originelle Miniatur in diesem tragikomischen Roman.

mehr erfahren

Abschaffel, ein 30-jähriger Angestellter einer Spedition, arbeitet in einem Großraumbüro in Frankfurt am Main. Der Einzelgänger lebt allein, und weil er sich in seiner kleinen Wohnung auch nicht lieber als im Büro aufhält, dehnt er den Nachhauseweg aus, indem er ziellos durch die Stadt schlendert.

Später, nach Feierabend, stolperte Abschaffel in der Innenstadt umher. Er versuchte, das Eintreffen in seiner Wohnung möglichst hinauszuschieben, obwohl er nicht wusste, was er in der Stadt machen sollte.

Unterwegs beobachtet er andere Leute und geht eigens zu einer Bank, deren automatische Eingangstür seit einiger Zeit defekt ist, um Leute zu beobachten, die mit den Tücken der Technik kämpfen. Aber die Schadenfreude befreit ihn nur kurz von seiner schlechten Laune. In einem Imbiss verlangt jemand ein Eibrötchen. Abschaffel verhört sich und stellt sich vor, wie ein Eilbrötchen aussehen könnte. Vermutlich wäre es halb so groß wie ein normales Brötchen.

Er ist weder ein Erfolgsmensch noch ein Versager. Einmal hatte er ein halbes Jahr lang drei Sexualpartnerinnen, die nichts voneinander wussten. Aber das war ihm zu anstrengend. Da zieht Abschaffel es vor, zu onanieren. Das tut er häufig. Hin und wieder hat er etwas mit einer Frau, und zwischendurch geht er ins Bordell.

An einem Wochenende fährt er mit dem Zug nach Mannheim, um seine Eltern zu besuchen. Ohne es auszusprechen, wirft er ihnen vor, dass mit ihnen nie etwas geschehen sei und deshalb auch mit ihm nichts habe geschehen können. Die Mutter gibt ihm eine Fahrkarte für die Straßenbahn, und der Vater weist darauf hin, dass man zwar auch beim Fahrer eine Fahrkarte kaufen könne, dann aber mehr bezahlen müsse.

Mit der geschenkten Fahrkarte fährt Abschaffel nicht zum Bahnhof, sondern zu den Bordellen in der Hafengegend. Dort will er sich zuerst eine möglichst alte Prostituierte nehmen und dann eine ganz junge. Aber er folgt dann gleich einer jungen Prostituierten, die ihn angesprochen hat. Dass er keine Erektion zustande bringt, wirft er dem Mädchen vor. Rasch zieht er sich wieder an, um ihr zu zeigen, dass er beleidigt ist.

Eines Tages entdeckt Abschaffel Filzläuse in seinem Schamhaar. Er konsultiert deshalb einen Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, der ihm Jacutin verschreibt.

Frau Schönböck, eine geschiedene Kollegin, die ein paar Jahre älter als Abschaffel ist, bittet ihn, ihr dabei zu helfen, einen Tisch und einen Stuhl ihrer Tante in ihre Wohnung zu transportieren. Sie fahren mit ihrem Auto zu einer Bekannten, montieren den geliehenen Gepäckträger aufs Dach, holen die Möbel und bringen den Gepäckträger wieder zurück. Zum Dank lädt Frau Schönböck ihren Helfer in ein griechisches Restaurant an. Danach nimmt sie ihn mit in ihre Wohnung. Weil ihr siebenjähriger Sohn Horst im Wohnzimmer schläft, trinken sie zunächst in der Küche ein Glas Wein und treiben es dann miteinander im Kinderzimmer.

SO GEHT ES NICHT WEITER! SO KANN ES NICHT WEITERGEHEN! ES MUSS ALLES GANZ ANDERS WERDEN! Mit solchen Sätzen, die er unaufhörlich vor sich hin murmelte, ging Abschaffel einige Tage später nach Hause. ICH KANN MICH NICHT JEDEN TAG IN DER STADT HERUMTREIBEN! ICH MUSS SINNVOLLER LEBEN!

Im Restaurant einer Markthalle setzt Abschaffel sich zu einer Frau an den Tisch. Die 35-jährige Goldschmiedin heißt Margot und wird seine neue Geliebte.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Über die Figur Abschaffel hat Wilhelm Genazino eine Romantrilogie geschrieben: „Abschaffel“ (1977), „Die Vernichtung der Sorgen“ (1978) und „Falsche Jahre“ (1979). Für eine Identifikationsfigur taugt dieser Kotzbrocken nicht. Der 30-jährige Büroangestellte ist weder ein Erfolgsmensch noch ein Versager; er weist keine besonderen Charaktereigenschaften auf und treibt als Einzelgänger ziellos, jedem Impuls folgend durchs Leben. Wenn Abschaffel sich nicht gerade über Nichtigkeiten ärgert, langweilt er sich. Skurrile Vorstellungen drängen sich ihm auf. Zum Beispiel hätte er gern eine weibliche Brust, um einen Säugling stillen zu können, oder er beabsichtigt, sich zunächst eine möglichst alte und gleich darauf eine ganz junge Prostituierte zu nehmen. Er onaniert häufig, treibt es aber auch hin und wieder lustlos mit einer Frau. Wenn er seinen Mittelfinger lange in der Vagina einer Apothekerin gehabt hat, wäscht er ihn zwei Tage lang nicht, um immer wieder daran riechen zu können. Die Vorstellung, dass er sich noch 30 Jahre lang mit seinem faden Geschlechtsleben beschäftigen muss, ängstigt ihn.

Eine Handlung im engeren Sinne gibt es in „Abschaffel“ nicht. Wilhelm Genazino folgt dem Protagonisten mehrere Tage lang durch den trostlosen Alltag. Charakteristisch ist folgende Passage bzw. Leseprobe:

Er überlegte, dass er, und dies galt auch von den Hemden und seiner Unterwäsche, zwei Sorten von Kleidungsstücken hatte, solche, die er gern anzog und die ihm guttaten, und andere, die ihm zu eng, zu weit, zu bunt oder sonstwie unpassend erschienen und die er trotzdem nicht wegwarf. Er zog auch die Unpassenden immer wieder an und ließ sich auf vertrackte Weise von ihnen quälen. Dies wurde ihm in diesem Augenblick so klar, dass er eines der Hemden, das ihm noch nie gefallen hatte, nahm und es wegwarf, obwohl es eben frisch gewaschen war. Und er war dankbar, dass ihm in den Wäldern der Unklarheit plötzlich ein winziges Detail klar und hell geworden war, aber gleich darauf, als er das frisch gestärkte Hemd, nur mühsam geknickt, im Mülleimer sah, wurde ein Teil seiner inneren Organe erschreckt. Es war ein Schreck, der ihn tief mit seinen Eltern und seiner Erziehung verband, weil es in dieser Erziehung verboten war, etwas wegzuwerfen, das noch nicht ganz oder gar zuschanden geworden war. Wirklich glaubte Abschaffel, wieder ein Stück seiner Kühnheit zurücknehmen zu müssen und das Hemd wieder herauszuholen. Ihr erinnerte sich, dass sein Vater während seines ganzen Lebens, das nun im siebzigsten Jahr angekommen war, insgesamt drei Wintermäntel angeschafft hatte und dass es ihn Wochen der Übelkeit und des Verdrusses gekostet hatte, um zweimal, verteilt auf rund vierzig Jahre, einen schadhaft gewordenem Wintermantel wegzuwerfen. Diese Art von Mangelleben hielt der Vater für DAS LEBEN überhaupt. Abschaffel fühlte nichts Gutes, als ihm diese Details einfielen. Einerseits sympathisierte er zunehmend mit der Auffassung des Vaters, weil sein eigenes, Abschaffels, Leben sich immer mehr, ähnlich wie das des Vaters, durch den Mangel definierte; andererseits durchschaute er die Kleinlichkeit, die dieser Auffassung zugrunde lag, ja ihr überhaupt erst die Optik frei machte, und kleinlich wollte Abschaffel nicht sein. Lebten kleinliche Menschen in einer großzügigen Welt, oder mussten die Menschen kleinlich sein, weil die Kleinlichkeit der Welt ihnen keine andere Wahl liest? Abschaffel ärgerte sich, weil er wegen eines weggeworfenen Hemdes, wegen einer lächerlichen Regelverletzung, in solche Zustände und Betrachtungen geraten war; er hob noch einmal den Deckel des Mülleimers hoch, zog das Hemd etwas heraus und verdreckte es mit dem übrigen Inhalt des Mülleimers. Mit der bloßen Hand holte er eine Ölsardinenbüchse aus der Tiefe des Mülleimers und kippte einige Tropfen Öl über das Hemd, darüber leerte er einen Aschenbecher aus. Dann ging er in das Bad, kämmte sich rasch und wütend, entfernte die Haare aus dem Kaum und ließ sie in den Eimer fallen auf das Hemd, und in einer kindischen Trotzwallung spuckte er dreimal über alles darüber.

Neben Banalitäten schildert Wilhelm Genazino auch, was Abschaffel an anderen Menschen beobachtet, und da entsteht die eine oder andere originelle Miniatur in diesem tragikomischen Roman. Ein Buch, das Einsamkeit, Langeweile und Ereignislosigkeit veranschaulicht, kann nicht spannend sein. „Abschaffel“ ist keine atemraubende Lektüre, bietet aber ein Panorama des öden Großstadtlebens in den Siebzigerjahren. Auch wenn das Bild subjektiv ist und viele Leser das Leben in einer Metropole wie Frankfurt am Main anders wahrnehmen, gibt der sozialkritische Ansatz zu denken.

In der Gedankenführung holpert es mitunter, etwa wenn Wilhelm Genazino erläutert, dass es sich bei einem Kind, dessen Namen – Horst – er vier Zeilen weiter oben bereits genannt hat, um einen Jungen handelt. Die Sprache ist nicht besonders elegant. Da gibt es zwar eine gelungene Wortneuschöpfung wie Sexualimbiss, aber auch Grammatikfehler, die – im Fall von Spaghettis – siebenmal wiederholt werden. Außerdem kennen weder Wilhelm Genazino noch seine Lektoren den Unterschied zwischen gleich und dasselbe.

Den Roman „Abschaffel“ gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Wilhelm Genazino (Regie: Marlene Breuer, Frankfurt/M 2011, 380 Min, ISBN 978-3-8218-6359-7).

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Rowohlt Verlag / Carl Hanser Verlag

Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag
Wilhelm Genazino: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit
Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten
Wilhelm Genazino: Wenn wir Tiere wären

Siegfried Lenz - Die Phantasie
Dass am Ende der Erzählung "Die Phantasie" drei Geschichten über ein unbekanntes Paar nebeneinander stehen, erinnert an die Ringparabel. Vielleicht ist "Die Phantasie" ein wenig zu deutlich ‒ nicht genügend kunstvoll verpackt ‒, aber auf jeden Fall handelt es sich um eine interessante Fragestellung, und es ist beeindruckend, wie Siegfried Lenz mit wenigen Strichen prägnante Szenen veranschaulicht.
Die Phantasie