Daniel Galera : Flut

Flut
Originalausgabe: Barba ensopada de sangue Editora Companhia das Letras, Sãio Paulo 2012 Flut Übersetzung: Nicolai von Schweder-Schreiner Suhrkamp Verlag, Berlin 2013 ISBN: 978-3-518-42409-4, 425 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nachdem sich sein Vater erschossen hat, zieht der 33 Jahre alte Ich-Erzähler, dessen Namen wir nicht erfahren, mit der Hündin des Toten in das brasilianische Fischerdorf Garopaba, wo vor fast 40 Jahren angeblich sein Großvater ermordet wurde. Er erkundigt sich nach ihm, aber die Bewohner beantworten seine Fragen nicht und grenzen ihn aus. Manche erschrecken, wenn sie ihn sehen, denn er ähnelt offenbar seinem Großvater sehr ...
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Kritik

In dem symbolisch aufgeladenen Roman "Flut" geschieht äußerlich nicht viel. Daniel Galera benötigt keine spektakulären Ereignisse oder formale Effekthaschereien, um den Leser in seinen Bann zu ziehen. "Flut" ist Literatur auf hohem Niveau.
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Der 33 Jahre alte Erzähler, dessen Namen wir nicht erfahren, kann sich keine Gesichter merken. Dies ist eine Folge einer perinatalen Hypoxie, also einer Hirnschädigung durch Sauerstoffmangel bei der Geburt.

Sein bei Viamão östlich der brasilianischen Metropole Porto Alegre lebender, von seiner Ehefrau Sônia vor Jahren verlassener Vater Hélio ruft ihn 2008 zu sich. Im Alter von 20 Jahren war Hélio nach Porto Alegre gekommen. Eineinhalb Jahre später eröffnete er eine Druckerei im Stadtteil Azenha und wurde zugleich Werbetexter. Hélio trinkt Cognac, und auf dem Tisch liegt eine Pistole. Er erzählt seinem Sohn von dessen Großvater. Seine Mutter war an Peritonitis gestorben, als er 18 war. Der Witwer verließ 1966 seinen Hof in Taquara, und im Jahr darauf zog er in das Fischerdorf Garopaba bei Laguna. Dort wurde er 1969 ermordet, also noch vor der Geburt seines Enkels. Er sei auf einem Tanzfest erstochen worden, heißt es, aber die Polizei konnte den Fall nicht aufklären.

Nachdem Hélio von seinem Vater erzählt hat, kündigt er für den nächsten Tag seinen Suizid an und bittet seinen Sohn, die 15 Jahre alte Hündin Beta danach vom Tierarzt einschläfern zu lassen, damit sie nicht allein zurückbleibt. Er selbst bringe es nicht fertig, sagt er.

Wie angekündigt, hält Hélio sich am nächsten Tag die Pistole unters Kinn und schießt sich in den Kopf.

Statt Beta einschläfern zu lassen, fährt der Sohn mit ihr nach Garopaba. Er übernachtet zunächst im Hotel und entdeckt bald eine Wohnung direkt am Strand, die ihm gefällt. Allerdings überlässt Dona Cecina, die Eigentümerin, sie ihm erst, als er die Miete für ein Jahr im Voraus bezahlt.

Um Geld zu verdienen, fängt er als Schwimmlehrer in der Academia Swell an.

Dália, eine 21-jährige Studentin aus Caçador, die in Garopaba als Kellnerin jobbt und hier mit ihrem sechs Jahre alten Sohn Pablo bei ihrer Mutter wohnt, wird seine Lebensgefährtin. Sie will ab Juli Naturheilkunde in Florianópolis studieren. Es stört ihn, dass sie Joints raucht, LSD und Ecstasy konsumiert, aber der Grund dafür, dass er die Beziehung nach dem gemeinsamen Besuch einer Zirkusvorstellung beendet, ist eher seine Orientierungslosigkeit.

Er freundet sich mit einem Mann namens Bonobo an, der in Praia do Rosa eine Pension und ein Café besitzt, sich für einen Buddhisten hält und eine Augenklappe aufsetzt, wenn er sich betrunken hinters Lenkrad seines schrottreifen Käfers setzt. Auf diese Weise vermeide er Doppelbilder, erklärt er.

Fischer, die der Erzähler nach seinem Großvater fragt, antworten ihm nicht und reden danach überhaupt nicht mehr mit ihm. Ein Barbier rät ihm, die Leute nicht durch weitere Fragen noch mehr gegen sich aufzubringen. Bei der Polizei weiß man angeblich auch nichts.

Beta wird überfahren und von dem Autofahrer zur Tierärztin Greice gebracht, die dem Hundebesitzer rät, das 15 Jahre alte Tier einschläfern zu lassen, um ihm Leid zu ersparen, denn es ist damit zu rechnen, dass Beta auch nach einer Operation nicht mehr laufen kann. Aber er drängt Greice, alles zu tun, um die Hündin wieder auf die Beine zu bekommen und erklärt sich bereit, die erforderlichen Kosten zu übernehmen.

Kurz darauf hat er eine Vision von seinem Tod und schreibt auf ein Blatt aus einem alten Kalender, er werde in Garopaba ertrinken. Bonobo soll den Zettel aufbewahren.

Der über 60 Jahre alte Sänger Índio Mascarenhas, der mit einer Sambagruppe in Garopaba auftritt, erschrickt beim Anblick des Mannes aus Porto Alegre, als habe er ein Gespenst gesehen, denn der Schwimmlehrer sieht so aus, wie er dessen Großvater in Erinnerung hat, der ihn vor 40 Jahren auf einer Kirmes mit einem Messer am Arm verletzte. Als er dann erneut nach Garopaba gekommen sei, berichtet er, war der Großvater verschwunden und keiner wollte über ihn reden. Es hieß nur, er habe ein Mädchen getötet.

Der Erzähler ruft Gonçalo an, einen Jugendfreund, der als Journalist arbeitet, und der verspricht ihm, sich nach einer entsprechenden Akte des Mordfalls von damals zu erkundigen. Die Akte ist zwar verschollen, aber Gonçalo findet heraus, dass Zenão Bonato, der Kommissar aus Laguna, der damals die Ermittlungen leitete, noch lebt, und zwar in Pato Branco.

Also fährt Gonçalos Freund dorthin. Die Busfahrt dauert zwölf Stunden. Zenão Bonato verabredet sich mit ihm um Mitternacht im Nachtklub Deliryu’s. Sicherheitshalber treffe er sich hier mit Fremden, erklärt er, denn hier sei er unter Freunden. Der frühere Kommissar erzählt, was er über den Großvater des Gesprächspartners weiß: Er erhielt damals von der jungen Freundin des Ermordeten ein Telegramm, fuhr am nächsten Tag nach Garopaba und befragte die Bewohner. Widerwillig erzählten sie ihm von einem Stromausfall während eines Tanzfestes. Als das Licht wieder angegangen sei, habe der Mann tot am Boden gelegen. Mehr fand der Kommissar nicht heraus. Nicht einmal die Leiche konnte er aufspüren.

Beta überlebt die Operation, und die Tierärztin ist zuversichtlich, dass sich die Hündin in einigen Wochen wieder bewegen kann. Greice hält Physiotherapie für erforderlich. Das übernimmt der Hundebesitzer selbst: Er bringt dem Tier bei, jeden Tag mit ihm im Meer ein Stück weit hinauszuschwimmen.

Jasmim, die an der katholischen Universität in Porto Alegre ihren Master in Psychologie machen will, wird seine neue Geliebte. Sie jobbt im Touristikbüro in Garopaba und hat hier ein Häuschen gemietet. Ihre Mutter betreibt ein Restaurant in Tristeza, einem Stadtteil von Porto Alegre, der Vater ist Rechtsanwalt und Abgeordneter der Kommunistischen Partei. Ein schrulliger Einheimischer namens Joaquim, der erfahren hat, dass sie zweimal von einem Schatz unter dem gemieteten Haus geträumt hat, warnt sie: Falls sie ein drittes Mal davon träume und den Schatz ausgrabe, werde sie sterben. Mit einem selbst gebastelten Metalldetektor macht er sich auf die Suche. Als er Jasmims Freund erblickt, taumelt er vor Schreck zurück, ähnlich wie zuvor schon der Sänger Índio Mascarenhas.

Nachdem Jasmim zum dritten Mal von dem Schatz geträumt hat, reißt sie die Eingangstreppe weg und findet im Erdreich darunter einen silbernen Kerzenständer und einen Pokal. Ohne Ankündigung und ohne Abschied verschwindet sie aus Garopaba. Nach einer Woche schickt sie dem Mann, der nach seinem Großvater sucht, eine SMS und teilt ihm mit, sie habe seit längerer Zeit die Orientierung verloren, sei nun in Porto Alegre und wolle sich neu besinnen.

Er fragt seine Vermieterin Dona Cecina nach seinem Großvater. Ihr Ehemann Quirino („Quem“) stöhnt im Rollstuhl, als er merkt, worüber die beiden reden, aber durch einen Schlaganfall hat er die Fähigkeit verloren, sich verbal zu artikulieren. Cecina schreibt ihrem Mieter den Namen und die Adresse der Freundin seines Großvaters auf. Santina lebt in Costa do Macacu. Aber niemand darf erfahren, dass Cecina ihm diesen Hinweis gab, denn in Garopaba verübelt man ihr ohnehin schon, dass sie ihren Mieter nicht längst auf die Straße setzte.

Santina ist zum zweiten Mal an Krebs erkrankt und wartet seit sieben Monaten auf einen Operationstermin. Sie war nicht dabei, als ihr Freund 1969 auf einem Tanzfest ermordet wurde, denn ihr war übel. Es hieß, er habe José Felicianos Tochter getötet, aber Santina bezweifelt es. Als während des Festes der Strom ausfiel und es dunkel war, stachen die Männer auf ihren Freund ein. Dann ging das Licht wieder an, und er lag aus zahlreichen Stichwunden blutend am Boden. Trotz seiner schweren Verletzungen erhob er sich und zückte sein Messer. Alle wichen zurück, während er zum Meer ging und hinausschwamm. Santina sah ihn danach noch einige Male, zuletzt vor sechs oder sieben Jahren in den Hügeln von Pinheira, aber er war offenbar verrückt geworden. Dass damals eine Schwangerschaft die Ursache ihrer Übelkeit war, erfuhr er nie, und Santina verlor das von ihm gezeugte Kind durch eine Fehlgeburt.

Sein Enkel hört auf, als Schwimmlehrer in der Academia Swell zu arbeiten.

Während eines Stromausfalls in Garopaba kommen ihm drei oder vier Männer entgegen, schlagen mit Fäusten auf ihn ein und gehen weiter, ohne ihn auszurauben.

Nach tagelangem Wandern mit Beta im Regen trifft er auf Jarbas und Valquíria, ein Paar, das für sich und den 13 Monate alten Säugling ein Zelt aufgeschlagen hat. Er will zunächst bei ihnen übernachten, aber als sie von einem Alten in einer Höhle erzählen, geht er noch in der Nacht hin.

Dem Greis, der sich die Höhle mit einer minderjährigen Mulattin und zwei noch jüngeren Mädchen teilt, fehlen Teile des kleinen Fingers und des Ringfingers der linken Hand. Der Enkel erinnert sich, dass Hélio ihm erzählte, wie dessen Vater die Finger bei einer gewalttätigen Auseinandersetzung einbüßte.

Was willst du von mir?, fragt der Alte.
Es ist die Stimme seines Vaters.
Ich wollte dich kennenlernen.
Bist du gekommen, um mich zu holen?
Nein, ich wollte dich nur sehen. Ich bin dein Enkel.

Seit Monaten versuche ich herauszufinden, was mit dir passiert ist. Alle glauben, dass du tot bist. Ich habe Santina kennengelernt.
Es ist falsch, du hättest nicht herkommen dürfen.

Der Greis attackiert ihn mit einem Messer und ritzt ihn an der Hüfte. Der Enkel flieht und lässt dabei die Hündin zurück. Er stürzt von einem Kliff ins Meer und schwimmt um sein Leben.

Am nächsten Morgen wird er am Strand Siriú von Garopaba gefunden.

Er versteht jetzt, was sein Großvater gesehen hat. Eine Erscheinung, eine jüngere Version seiner selbst. Etwas, das nicht hätte sein dürfen.

Er will gerade zu einem Arzt, als er Beta bellen hört. Die Hündin ist angebunden. Als er den Knoten zu lösen versucht, wird er von dem Kerl, der sie gefunden hat, zusammengeschlagen. Unterkühlt, dehydriert, unterzuckert, mit einer bakteriellen Lungenentzündung, Schürfwunden, einer gebrochenen Nase und einem Rippenbruch wird er ins Krankenhaus in São José gebracht.

Als Bonobo ihn dort besucht, verschweigt er, dass er seinen Großvater fand und behauptet stattdessen, er sei im Fieberwahn herumgewandert.

Nach seiner Entlassung taucht unerwartet Viviane bei ihm auf. Sie war vor Jahren seine Braut. Aber dann bekam sie in São Paulo einen Job. Sein älterer Bruder Dante bot ihnen an, bei ihm zu wohnen, aber er wollte nicht aus Porto Alegre weg, weil er sich zu dieser Zeit auf den Ironman auf Hawaii vorbereitete. Also zog Viviane allein São Paulo – und heiratete schließlich Dante. Der Erzähler brach deshalb die Beziehungen zu beiden ab und redete nicht einmal bei der Beerdigung des Vaters mit seinem Bruder. Als Geschenk bringt Viviane ihrem Schwager ein vergrößertes und gerahmtes Foto seines Vaters mit. Der Grund ihres Besuchs ist ihre Schwangerschaft: Dante und sie möchten, dass er Pate seines Neffen wird. Da holt er einen Jahre alten Zettel hervor. Viviane kann sich zunächst gar nicht mehr daran erinnern, aber er ist von ihr abgezeichnet und enthält die Vorhersage, dass sie ihn verlassen und später bitten werde, die Patenschaft für ihr Kind zu übernehmen. Ihr Schwager lehnt den Vorschlag ab, denn er will keine Versöhnung.

Verzeihen heißt, so zu tun, als würde es nicht existieren. Aber das Leben ist das Ergebnis unserer Handlungen. Es ist sinnlos, sich so zu verhalten, als wäre etwas nicht geschehen.

Ich weiß nur, dass wir uns nicht frei entscheiden können, aber trotzdem so leben müssen, als könnten wir es.

Und deswegen ist Verzeihen sinnlos. Verzeihen ist feige. Was Mut verlangt, ist, weiter zu lieben, Freundschaften zu schließen, anderen Gutes zu tun, ohne zu verzeihen und ohne dass einem verziehen wird, ohne so zu tun, als könne man irgendetwas auslöschen.

Als sein Neffe 17 Jahre alt ist, ertrinkt der Erzähler beim Versuch, eine Frau zu retten, die an der Praia da Ferruge ins Wasser fiel. Weil keine Leiche gefunden wird, findet nur eine symbolische Beisetzung in Garopaba statt, zu der auch Dante und Viviane mit ihrem Sohn aus São Paulo anreisen. Dabei lernen sie die Witwe und die beiden Kinder kennen. Der Neffe kennt seinen Onkel nur von Fotos, aber er weiß, dass dieser eine kleine Praxis für Stretching und Pilates betrieb und im Sommer als Rettungsschwimmer hinzuverdiente. Zwar hatte er ein Haus an einem der Hügel der Volta do Ambrósio gebaut, zog sich dann jedoch in eine Hütte in der Serra Paulista zurück, um einen Roman zu vollenden.

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Gleich zu Beginn erschießt sich der Vater des Protagonisten. Ansonsten geschieht äußerlich nicht viel. „Flut“ handelt von der inneren Entwicklung eines Mannes, der nach seinem Großvater sucht und sich dabei selbst findet. Nebenbei berührt der brasilianische Schriftsteller Daniel Galera (* 1979) philosophische Themen wie Wiedergeburt, Verantwortung für eigene Taten, die Unmöglichkeit, die Vergangenheit zu ändern und die Dichotomie freier Wille / Determinismus.

„Flut“ ist im Präsens und in der ersten Person Singular geschrieben. Anders als der Ich-Erzähler spielen Nebenfiguren immer nur zeitweise eine Rolle, sie kommen und gehen. Eine Beziehung wird allerdings immer wieder erwähnt: die zwischen dem Protagonisten, seinem älteren Bruder und seiner Schwägerin. Durch deren Verrat hat er seine Orientierung verloren.

Der Protagonist lässt sich einen Vollbart wachsen, und den Originaltitel „Barba ensopada de sangue“ könnte man mit „blutgetränkter Bart“ übersetzen, aber für die deutsche Ausgabe wählte der Verlag stattdessen den Titel „Flut“, und der bezieht sich auf das Meer, das in dem Roman beinahe omnipräsent ist.

Daniel Galera hat den Bart, das Meer und vieles andere auch symbolisch aufgeladen, aber so unaufdringlich, dass es subtil und geheimnisvoll wirkt. Außerdem verwendet er Spiegelungen. Daniel Galera benötigt keine spektakulären Ereignisse oder formale Effekthaschereien, um den Leser in seinen Bann zu ziehen. Ernst und unaufgeregt veranschaulicht er die innere Entwicklung des Protagonisten und weicht bei der Darstellung dieses mehrere Monate dauernden Prozesses nur selten von der Chronologie ab. Er beschränkt sich auf Andeutungen und verzichtet auf Erläuterungen. Trotz oder gerade wegen dieser Schlichtheit ist „Flut“ Literatur auf hohem Niveau.

Der Prolog ist übrigens erst verständlich, wenn man den Roman gelesen hat, denn er spielt 17 Jahre nach der eigentlichen Handlung.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: Suhrkamp Verlag©

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