Max Frisch : Stiller

Stiller
Stiller Erstausgabe: Suhrkamp Verlag 1954 Reprint der Erstausgabe: Suhrkamp 2004 ISBN 3-518-41661-8, 584 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein Mann, den seine Frau, der Bruder, die Geliebte und Freunde als den vor sechs Jahren spurlos verschwundenen Schweizer Bildhauer Stiller erkennen, bleibt beharrlich bei seiner Behauptung: "Ich bin nicht Stiller!"
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Kritik

"Unstimmigkeit unserer Existenz durch irgendeine Art von Selbstüberforderung, die zur Selbstentfremdung führt", das ist nur eines der Themen des ideenreichen, unerschöpflichen Romans "Stiller" von Max Frisch.
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Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere. Denn ohne Whisky, ich hab’s ja erfahren, bin ich nicht ich selbst, sondern neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen und eine Rolle zu spielen, die ihnen so passen möchte, aber nichts mit mir zu tun hat, und da es jetzt in meiner unsinnigen Lage (sie halten mich für einen verschollenen Bürger ihres Städtchens!) einzig und allein darum geht, mich nicht beschwatzen zu lassen und auf der Hut zu sein gegenüber allen ihren freundlichen Versuchen, mich in eine fremde Haut zu stecken, unbestechlich zu sein bis zur Grobheit, ich sage: da es jetzt einzig und allein darum geht, niemand anders zu sein als der Mensch, der ich in Wahrheit leider bin …

So beginnt der Roman.

Ein Mann wird bei der Einreise in die Schweiz am Bahnhof verhaftet. Er war mit dem Schiff aus Mexiko gekommen und dann mit dem Zug über Paris weitergereist. Er heiße White, behauptet er. (Der amerikanische Pass, den er vorlegt – so stellt sich später heraus –, ist gefälscht.) Aber ein Mitreisender im Zug will in ihm den Schweizer Bildhauer Anatol Ludwig Stiller erkannt haben, der vor sechs Jahren seine lungenkranke Frau in einem Sanatorium in Davos zurückließ und spurlos verschwand. Damals war die Polizei einem sowjetischen Agenten namens Smyrnow auf der Spur, der die Ermordung eines Exkommunisten in der Schweiz vorbereitete. Die Ermittler fanden heraus, dass Smyrnow sich am 18. Januar 1946 in Zürich mit einem Helfer getroffen hatte, den man den „Schweizer“ nannte, und als kurz darauf bekannt wurde, dass Stiller verschwunden war, geriet er in Verdacht, dieser einheimische Mittelsmann Smyrnows gewesen zu sein.

Meine Zelle … ist klein wie alles in diesem Land, sauber, sodass man kaum atmen kann vor Hygiene, und beklemmend gerade dadurch, dass alles recht, angemessen und genügend ist. Nicht weniger und nicht mehr! … Sogar die Gitterstäbe werden hierzulande abgestaubt.

Der Häftling, der versichert, nicht Stiller zu sein, beschwert sich bei seinem Verteidiger Dr. Bohnenblust über das Glockenläuten.

„Ich habe mich bemüht“, sagt mein amtlicher Verteidiger, „Ihre hoffentlich kurze Zeit in der Untersuchungshaft so angenehm wie möglich zu gestalten – Whisky ist nicht gestattet! – Sie haben die beste Zelle im ganzen Haus, glauben Sie mir, nicht die größte, aber die einzige mit Morgensonne; Sie haben diesen Blick in die alten Kastanien. Was das Geläute vom Münster betrifft – es ist sehr laut, ich gebe es zu; aber was erwarten Sie denn von mir! Ich kann doch das Münster nicht anderswohin stellen!“

Der Verteidiger nennt den Häftling unbeirrt „Stiller“; nur der gutmütige Wachbeamte Knobel spricht ihn mit dem Namen „White“ an und hört sich gebannt an, was dieser ihm erzählt. White behauptet, seine Frau ermordet zu haben, dann einen Direktor namens Schmitz im Dschungel auf Jamaika und schließlich den eifersüchtigen Mann einer Mulattin, die seine Geliebte war.

Mit Fakten aus Büchern, die er sich aus der Stadtbibliothek besorgt hat, versucht Dr. Bohnenblust die Aussagen seines Mandanten über dessen Leben in den USA und in Mexiko zu widerlegen. Ohnehin könne der Häftling die geschilderten Einzelheiten Büchern oder Medienberichten entnommen haben.

Wir leben in einem Zeitalter der Reproduktion. Das allermeiste in unserem persönlichen Weltbild haben wir nie mit eigenen Augen erfahren, genauer: wohl mit eigenen Augen, doch nicht an Ort und Stelle; wir sind Fernseher, Fernhörer, Fernwisser.

Bohnenblust holt Auskünfte ein und findet heraus, dass auf der angegebenen mexikanischen Hazienda nie ein Schweizer Staatsbürger beschäftigt war. „Bitte“, sagt White, „da haben Sie es ja!“ Er kann also nicht der gesuchte Stiller sein!

Als ihm der Verteidiger den Besuch von Julika Stiller-Tschudy ankündigt, Stillers Ehefrau, warnt ihn der Häftling:

„Herr Doktor“, sage ich, „ich habe nichts gegen den Besuch von Damen, ich wiederhole nur meine Warnung von neulich: ich bin ein sinnlicher Mensch, hemmungslos, wie gesagt, vor allem in dieser Jahreszeit.“
„Ich sagte es ihr.“
„Und?“
„Die Dame besteht darauf“, sagt er, „Sie unter vier Augen zu sprechen. Montag um zehn Uhr wird sie hier sein. Sie ist überzeugt, ihren Mann etwas besser zu kennen, als er sich selber kennt, und von Hemmunslosigkeit, meint die Dame, könne nicht die Rede sein, das sei von jeher ein Wunschtraum ihres Mannes gewesen, sagt die Dame und ist gewiss, allein mit Ihnen fertig zu werden.“

Er findet Julika Stiller-Tschudy sehr attraktiv.

Ihre fixe Idee, dass ich ihr verschollener Mann sei, ist durchaus nicht gespielt.

Er bleibt aber dabei, nicht Stiller zu sein, und sie stöhnt über seine „Hirngespinste“:

Sie dreht den Spieß einfach um – tut, als läge die fixe Idee bei mir.

Ein paar Tage später erscheint der Verteidiger triumphierend mit einem Familienalbum, das er von Stillers Bruder Wilfried erhalten hat, und der Angeklagte muss zugeben, dass zwischen ihm und diesem Stiller eine gewisse Ähnlichkeit besteht.

Nachdem Julika Stiller-Tschudy eine Kaution hinterlegt hat, darf der Untersuchungshäftling sie einmal pro Woche auf einem Spaziergang oder in ein Restaurant begleiten. Bei einem dieser Ausflüge bleibt er mitten auf einem Zebrastreifen stehen. Sie nimmt ihm am Arm, „verzagt wie über einen störrischen Esel“, aber er möchte wissen, wo es Whisky gibt.

Schon schwirren die Motorroller links und rechts an uns vorbei, ein Taxi hupt mich an, dann überdröhnt uns ein Lastwagen mit Anhänger, und Julika ist bleich wie Kreide, obzwar wir nun wieder das grüne Licht haben. Ein fremder Fußgänger, dem ich nichts getan habe, beschimpft mich mit Ausdrücken moralischer Entrüstung, als wäre es in einem Land, das sich täglich seiner Freiheiten rühmt, nicht statthaft, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen.

In Schreibheften, die man dem Häftling zur Verfügung stellt, soll er Auskunft über seinen Lebensweg geben. Er folgt der Aufforderung, argwöhnt jedoch, der Verteidiger hoffe, mit den Heften „sozusagen mein Leben in seine Aktenmappe stecken“ zu können. Zum Zeitvertreib beginnt er seine Aufzeichnungen damit, sich aufgrund von Julikas Erzählungen ihr Leben mit Stiller vorzustellen.

Julikas Mutter war Ungarin, der Vater Gesandter in Budapest. Mit 18 wurde sie Waise. Fünf Jahre später lernte sie Stiller kennen. Der kam damals aus dem Spanischen Bürgerkrieg zurück, an dem er sich als Freiwilliger in den Internationalen Brigaden beteiligt hatte. Aufgrund eines Erlebnisses im Bürgerkrieg hielt er sich für einen Versager: Es war ihm unmöglich gewesen, drei Gegner zu erschießen, weil er sie plötzlich nicht als Feinde, sondern einfach als Menschen betrachtet hatte. (Später sagt jemand zu Stiller: „Aber vielleicht hast du dich als jemand bewähren wollen, der du gar nicht bist.“) Julika war Balletttänzerin, ein unscheinbares, frigides Mädchen, das nur aufblühte, wenn es auf der Bühne tanzte.

Wie ein Meertier, das nur unter Wasser zu seinem Farbwunder gelangt, hatte auch Julika ihre geisterhafte Schönheit nur im Tanz, vor allem im Tanz; nachher war sie müde.

Julika und Stiller heirateten nach einem Jahr.

Sie brauchten einander von ihrer Angst her. Ob zu Recht oder Unrecht, jedenfalls hatte die schöne Julika eine heimliche Angst, keine Frau zu sein. Und auch Stiller, scheint es, stand damals unter einer steten Angst, in irgendeinem Sinn nicht zu genügen …

Weil Stiller nur hin und wieder etwas von seinen Kunstwerken verkaufte, lebten sie im Wesentlichen von Julikas Gage. In dieser finanziellen Lage kamen Kinder für sie nicht in Frage. Stiller kümmerte sich rührend um seine Frau: Wenn während einer Ballettprobe das Wetter umschlug, wartete er am Bühnenausgang mit Schal, Mantel und Schirm auf sie. Aber er kam sich in ihrer Gegenwart immer vor „wie ein öliger, verschwitzter, stinkiger Fischer mit einer kristallenen Wasserfee“.

Vor sieben Jahren hatte Stiller ein Verhältnis mit einer Frau namens Sibylle. Julika erkrankte an Tuberkulose und musste in ein Sanatorium in Davos. Ihr Mann besuchte sie dort nur dreimal. Beim letzten Besuch sagte er ihr, dass er sich von Sibylle getrennt habe. Sie dachten darüber nach, warum ihre Ehe gescheitert war. Stiller meinte:

„Eine gewöhnliche Geliebte zu haben, verstehst du, so ein gesundes und durchschnittliches Mädchen, das umarmt sein will und selber umarmen kann, nein, davor hatte ich Angst. Überhaupt war ich ja voll Angst! Ich machte dich zu meiner Bewährungsprobe. Und darum konnte ich dich auch nicht verlassen. Dich zum Blühen zu bringen, eine Aufgabe, die niemand sonst übernommen hatte, das war mein schlichter Wahnsinn. Dich zum Blühen zu bringen! Dafür machte ich mich verantwortlich – und dich machte ich krank, versteht sich, denn wozu solltest du gesund werden mit einem solchen Mann; die Angst, dass du an meiner Seite umglücklich würdest, fesselte mich ja stärker als irgendeine Art von Glück, die du zu geben hast.“ …
„So also siehst du mich!“, sagte Julika. „Du hast dir nun einmal ein Bildnis von mir gemacht, das merke ich schon, ein fertiges und endgültiges Bildnis, und damit Schluss. Anders als so, ich spüre es ja, willst du mich jetzt einfach nicht mehr sehen. … Du sollst dir kein Bildnis machen! Jedes Bildnis ist eine Sünde. Es ist genau das Gegenteil von Liebe … Wenn man einen Menschen liebt, so lässt man ihm doch jede Möglichkeit offen und ist trotz allen Erinnerungen einfach bereit, zu staunen, immer wieder zu staunen, wie anders er ist, wie verschiedenartig und nicht einfach so, nicht ein fertiges Bildnis, wie du es dir da machst von deiner Julika.“

Stiller ließ seine Frau im Sanatorium zurück und verschwand. „Wahrscheinlich hat es den Mann, den sie sucht, gar nicht gegeben“, räsoniert der Häftling.

Den Äußerungen des Staatsanwalts entnimmt der Häftling, dass es sich um den Ehemann von Stillers Geliebter handelt. Der jetzt 45-Jährige hat Stiller allerdings nie gesehen, nur einmal einen Anruf von ihm entgegengenommen.

Sibylle und Stiller lernten sich vor sieben Jahren auf einem Künstler-Maskenball kennen. Stiller war als „kreuzfideler Pierrot“ verkleidet. Die damals 28-jährige Sibylle verliebte sich in ihn. Ihr Ehemann Rolf reagierte erstaunlich gelassen, als sie ihm gestand, ein Verhältnis zu haben. Er verdächtigte allerdings nicht Stiller – den er gar nicht kannte –, sondern den mit Sibylle etwa gleichaltrigen Architekten Willi Sturzenegger, der gerade ihr neues Haus baute. Auch als Sibylle ihm ankündigte, sie werde mit ihrem Geliebten für einige Zeit nach Paris gehen, meinte er ruhig, sie müsse tun, was sie für richtig halte. Sibylle begleitete Stiller dann doch nicht nach Paris. Stattdessen fuhr sie in eine Schweizer Klinik, um den von ihm gezeugten Fetus abzutreiben. In dieser Woche rief Stiller aus Paris an und wollte von Rolf wissen, wo Sibylle zu finden sei.

Er traf sich noch einmal mit Sibylle in Pontresina, um ihr zu berichten, er habe sich von seiner Frau getrennt. Aber danach sahen sie sich nicht mehr.

Sibylle reiste mit ihrem Sohn Hannes in die USA. Sturzenegger hatte inzwischen ein Architekturbüro in Kalifornien eröffnet und traf sich mit ihr in New York, weil er eine Sekretärin suchte. Aber Sibylle nahm eine Stelle in einem anderen Büro in New York an. Da tauchte Rolf dann eines Tages auf und holte sie zurück. Jetzt erwartet sie gerade eine Tochter.

Nach und nach besuchen frühere Freunde Stillers den Häftling, aber er kennt niemanden von ihnen. Schließlich kommt auch sein fünf Jahre jüngerer Bruder Wilfried. Der spricht von der vor vier Jahren gestorbenen Mutter.

Seine Mutter war ordentlich streng, scheint es, meine ja gar nicht. … Es ist komisch, wie verschieden Mütter sein können!

Bei einem Lokaltermin in Stillers Atelier sind außer dem Angeklagten dessen Verteidiger, der Staatsanwalt, der Wachbeamte Knobel und Julika zugegen. Plötzlich wird Stillers seniler Stiefvater hereingeführt, den man für die Gegenüberstellung eigens aus dem Altersheim holte.

Ich rechne es Julika hoch an, dass sie in dem Augenblick, als man das Greislein aus dem Altersasyl hereinführt, wenigstens errötet wie eine Gattin, wenn die bestellten Irrenwärter mit der Zwangsjacke in die Wohnung kommen.

Stiller fällt kurz aus der Rolle: „Ich weine, als ich ihn erkenne.“ Dann aber leugnet er, den alten Mann zu kennen und fängt an, die Einrichtung des Ateliers zu zerschlagen und die Bronzebüsten aus dem Fenster zu werfen; sie poltern auf das Wellblechdach der Werkstatt darunter.

Bei der Gerichtsverhandlung wird er von dem Verdacht freigesprochen, mit Smyrnow in Kontakt gestanden zu sein, weil der Staatsanwalt nachweisen kann, dass Stiller am 18. Januar 1946 bereits bei einem tschechischen Bekannten in New York wohnte. Allerdings stellt das Gericht fest, dass es sich bei dem Angeklagten um niemand anderes als Anatol Ludwig Stiller handelt, und verurteilt ihn wegen einer Reihe nicht erfüllter Bürgerpflichten zur einer Geldstrafe (die sein Bruder bezahlt).

Stiller beendet seine Aufzeichnungen. Aus einem Nachwort des Staatsanwalts erfahren wir, dass Stiller sich mit seiner Frau Julika in ein heruntergekommenes Anwesen bei Glion zurückzog. Als Rolf das Paar dort nach einiger Zeit besuchte, verriet ihm Julika, dass ihr linker Lungenflügel entfernt werden müsse und nahm ihm das Versprechen ab, Stiller nichts davon zu sagen. Monate vergingen. Dann nützten Rolf und Sibylle die Gelegenheit einer Durchreise zu einem Besuch. Es war niemand zu Hause. Nach stundenlangem Warten erschien Stiller und entschuldigte sich, weil er den angekündigten Besuch vergessen hatte. Er kam aus einem Krankenhaus. Julika war gerade operiert worden. In der Nacht unterhielt sich Rolf mit dem stark betrunkenen Stiller.

„Diese Frau hat dich nie zu ihrer Lebensaufgabe gemacht. Nur du hast so etwas aus ihr gemacht, glaube ich, von allem Anfang an. Du als ihr Erlöser, ich sagte es schon, du wolltest es sein, der ihr das Leben gibt und die Freude. Du! In diesem Sinn hast du sie geliebt, gewiss, bis zum eignen Verbluten. Sie als dein Geschöpf.“

Julika starb am nächsten Tag.

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Unstimmigkeit unserer Existenz durch irgendeine Art von Selbstüberforderung, die zur Selbstentfremdung führt und schließlich zur Sterilität, weil es uns nicht gelingt, uns selbst anzunehmen …“

So fasst Max Frisch selbst das Thema seines Romans „Stiller“ zusammen.

„Die weitaus meisten Menschenleben werden durch Selbstüberforderung vernichtet“, meint der Staatsanwalt.

Dass die Selbstannahme mit dem Alter von selber komme, ist nicht wahr. … Es braucht die höchste Lebenskraft, um sich selbst anzunehmen … Solange ich die Umwelt überzeugen will, dass ich niemand anders als ich selbst bin, habe ich notwendigerweise Angst vor Missdeutung, bleibe ihr Gefangener kraft dieser Angst … Die Selbsterkenntnis, die einen Menschen langsam oder jählings seinem bisherigen Leben entfremdet, ist ja bloß der erste, unerlässliche, doch keineswegs genügende Schritt. … Nichts ist schwerer, als sich selbst anzunehmen! Eigentlich gelingt es ja nur den naiven Menschen …

Stiller versucht vergeblich, unter dem bezeichnenden Namen White (unbeschriebenes Blatt) ein neues Leben anzufangen. Er schreibt:

Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben; – diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die sich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, dass ich mich wandle …

Für das, was jemand auf einer unerwarteten Wellenlänge aussendet, haben seine Gesprächspartner zumeist keine Antenne, oder sie stellen sie nicht ein; jedenfalls kommt es zu keinem störungsfreien Empfang. Freundschaft, klagt Stiller, sei „eine Mechanik in den menschlichen Beziehungen“, die alles Lebendige und Gegenwärtige ausschließe:

Es funktioniert alles wie ein Automat: oben fällt der Name hinein, der vermeintliche, und unten kommt schon die dazugehörige Umgangsart heraus, fix und fertig, ready for use, das Klischee einer menschlichen Beziehung …

In „Stiller“ taucht bereits das Problem auf, das Max Frisch später in „Andorra“ wieder aufnimmt: Die Gesellschaft erwartet, dass der Einzelne so ist, wie die anderen ihn sehen. In „Andorra“ ist dieses Bild objektiv falsch, in „Stiller“ ist es objektiv richtig, obwohl der Betroffene diese Identität nicht akzeptiert.

Der originelle Plot veranschaulicht das Thema sehr einprägsam. Der Roman „Stiller“ besteht aus zwei Teilen: Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis und dem Nachwort des Staatsanwaltes. Es kommen also zwei fiktive Erzähler zu Wort. Doch bereits in Stillers Niederschrift wird das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln geschildert: aus der Sicht Julikas, Rolfs, Sibylles. Die Erzählungen ergeben zusammen nicht etwa ein objektives Bild, sondern sie verdeutlichen gerade durch die Variationen und Widersprüche, dass es verschiedene, gleichberechtigte Wahrnehmungen gibt.

Immer wieder findet Max Frisch einen Anlass, um Stiller alias White eine farbige, spannende, lustvoll fabulierte Geschichte in den Mund zu legen. Stiller erinnert sich an den Spanischen Bürgerkrieg und die Wüste von Mexiko; dem gutgläubigen Wachbeamten flunkert er fünf Morde vor, die er angeblich beging; wir erfahren etwas über die unglückliche Ehe des Apothekers Isidor, über Stillers erste Liebe, die polnische Medizinstudentin Anja und sein Verhältnis mit der Mulattin Florence; er erzählt das Märchen von Rip van Winkle; die Katze „Little Grey“, die er abwechselnd liebt und hasst, assoziieren wir mit Julika; und am Ende der Geschichte über die beiden Cowboys, die eine Höhle erkunden, wissen wir nicht, wer von den beiden überlebt hat.

Außer diesen fantastischen Geschichten streut Max Frisch originelle Beobachtungen, Beschreibungen und Aphorismen ein, zum Beispiel:

Stiller blickte sie an wie ein Hund, der die menschliche Sprache nicht versteht, und es fehlte wenig, dass Sibylle ihn gestreichelt hätte wie einen Hund.

Ich war neun Jahre lang verschwitzt, sehen Sie, vor schlechtem Gewissen.

Das ist das Beglückende an Hunden, man liebt sie oder man braucht sie nicht zu haben.

Obwohl die Ehe von Anatol und Julika Stiller tragisch endet und es Max Frisch um ernste Themen geht, ist die Lektüre des Romans aufgrund der Fabulierlaune des Autors und seiner hintergründig witzigen Erzählweise auch ein außergewöhnliches Vergnügen.

„Welch ein vielschichtig-reiches, unerschöpfliches Buch!“, schreibt Walter Jens und lobt das „Wechselspiel von Subjekt und Objekt, Nähe und Ferne, Vergangenheit und Gegenwart …, [das] Alternieren von Thema und Variation, Ausführung und Konzentrat, Bericht und legendärem Gleichnis …, [die] Antithetik von Haupterzählung und eingestreuten Geschichten“. Besser lässt es sich nicht ausdrücken.

„Stiller“ war der erste große Erfolg von Max Frisch als Schriftsteller, der erste Roman mit einer Millionenauflage.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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