David Foenkinos : Charlotte

Charlotte
Originalausgabe: Charlotte Éditions Gallimard, Paris 2014 Charlotte Übersetzung: Christian Kolb Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015 ISBN: 978-3-421-04708-3, 237 Seiten ISBN: 978-3-641-17252-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Charlotte Salomon wird 1917 in Berlin als Tochter eines Chirurgen geboren. Erst im Alter von 22 Jahren erfährt sie, dass ihre Mutter 1926 nicht durch eine Krankheit starb, sondern sich wie ein halbes Dutzend enger Verwandter das Leben nahm. Gleich darauf stürzt sich die Großmutter aus dem Fenster. Gegen die dadurch ausgelöste Krise kämpft die junge Künstlerin mit dem Zyklus "Leben? oder Theater?". 1943 wird sie in Auschwitz ermordet ...
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Kritik

In dem Roman "Charlotte" vermischen sich Fakten und Fiktion. David Foenkinos beginnt jeden seiner kurzen Sätze in einer neuen Zeile und akzentuiert so den Sprachrhythmus. Trotz der nüchternen Darstellung handelt es sich um eine erschütternde Lektüre.
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David Foenkinos beginnt seinen Roman über die Berliner Künstlerin Charlotte Salomon mit dem Suizid ihrer Tante Charlotte Grunwald, die im November 1913, gerade einmal 18 Jahre alt, von einer Brücke springt und sich ertränkt. Ihre ältere Schwester Franziska arbeitet im Ersten Weltkrieg als Krankenschwester in Frankreich und lernt 1915 in einem Lazarett den ehrgeizigen Chirurgen Albert Salomon kennen, dessen Eltern bereits tot sind. Im Jahr darauf heiraten die beiden. Ihr einziges Kind wird am 16. April 1917 in Berlin geboren und erhält zum Gedenken an die Tante den Namen Charlotte.

Albert Salomon missfällt, wie viel Zeit seine Frau mit dem Kind am Grab ihrer Schwester verbringt. Franziska leidet unter Stimmungsschwankungen, die man heute wohl als bipolare Störung bezeichnen würde: Depressive und euphorische Phasen wechseln sich ab. Als Charlotte acht Jahre alt ist, versucht ihre Mutter sich mit Opium zu vergiften, aber ihr Mann entdeckt sie noch rechtzeitig und rettet sie. Daraufhin bringt Albert Salomon seine Frau zu deren Eltern, aber sie können nicht verhindern, dass sie sich aus einem Fenster stürzt. Dem Kind sagt man, die Mutter sei an einer Grippe gestorben.

Nun vertraut Albert Salomon, der weiter Karriere macht und zum außerordentlichen Professor ernannt wird, seine Tochter den Schwiegereltern an.

Einige Zeit wohnt Charlotte bei ihren Großeltern.
Im Kinderzimmer ihrer verstorbenen Mutter.
Die Großmutter ist irritiert.
Sie bringt die Zeiten durcheinander.
Ein Kind, das die Züge ihrer ersten Tochter trägt.
Und den Namen der zweiten.

1930 heiratet der Witwer Albert Salomon in der Berliner Synagoge die berühmte Konzertsängerin Paula Lindberg und holt Charlotte zurück, die ihre Stiefmutter vergöttert und jeden Zeitungsartikel über sie ausschneidet.

Damit ändert sich Charlottes Leben von Grund auf.
Durch die an Stille und Öde gewöhnte Wohnung weht nun ein anderer Wind.
Mit Paula hält das kulturelle Leben Einzug.
Sie lädt namhafte Persönlichkeiten ein.
Man begegnet dem berühmten Albert Einstein.
Oder dem Architekten Erich Mendelsohn.
Oder Albert Schweitzer.

Paula hält es für falsch, dem Kind die Wahrheit über den Tod der Mutter vorzuenthalten, doch weder der Vater noch die Großeltern lassen es zu, dass Charlotte etwas von Franziskas Suizid erfährt. Vor allem für die Großmutter handelt es sich um ein Tabuthema. Sie hat nicht nur ihre beiden Töchter durch Selbsttötungen verloren, sondern zuvor auch schon ihren Bruder. Der Jurist ertränkte sich im Alter von 28 Jahren. Seine einzige Tochter vergiftete sich mit Schlaftabletten. Andere enge Verwandte starben ebenfalls durch eigene Hand.

Nach Hitlers Machtübernahme verliert Albert Salomon die Lehrbefugnis, und er darf nur noch am Jüdischen Krankenhaus praktizieren. Die bisher umjubelte Mezzosopranistin Paula Lindberg wird von der Bühne verbannt.

Charlotte Salomon reist im Sommer 1933 mit ihren Großeltern nach Italien. Weil jüdische Schülerinnen inzwischen in Deutschland ausgegrenzt werden, bricht die Gymnasiastin ein Jahr vor dem Abitur die Schulausbildung ab. Der Kunstprofessor Ludwig Bartning setzt sich dafür ein, dass Charlotte Salomon trotz ihrer jüdischen Herkunft ab 1935 an den Vereinigten Staatsschulen für Freie und Angewandte Kunst in Berlin studieren darf.

Während des Studiums verliebt sich Charlotte Salomon in Alfred Wolfsohn, den jüdischen Gesangslehrer ihrer Mutter, aber nach der ersten gemeinsamen Nacht lässt der doppelt so alte Mann nichts mehr von sich hören.

Die Großeltern leben seit 1934 bei der deutschstämmigen amerikanischen Witwe Ottilie Moore in der Villa L’Ermitage in Villefranche-sur-Mer an der Riviera. Nachdem Albert Salomon 1938 vier Monate lang im KZ Sachsenhausen eingesperrt war, will er mit Paula und der Tochter ebenfalls nach Südfrankreich. Charlotte könnte Deutschland nach ihrem 22. Geburtstag am 16. April 1939 nur noch mit einem Pass verlassen – den man einer Jüdin allerdings nicht ausstellen würde. Fingierte Nachrichten des Großvaters über seine todkranke Frau, die ihre Enkelin noch einmal sehen wolle, ermöglichen es Charlotte Salomon, im französischen Konsulat in Berlin ein Visum zu bekommen. Im Januar 1939 fährt sie mit dem Zug über Paris nach Nizza und von dort mit dem Bus weiter nach Villefranche.

Albert Salomon und Paula Lindberg schaffen es mit gefälschten Papieren nach Amsterdam, aber sie müssen in Berlin alles zurücklassen, und es gelingt ihnen nicht, die Grenzen nach Belgien und Frankreich zu überqueren. Sie stecken in den Niederlanden fest.

Im Frühjahr 1940 zieht Charlotte Salomon mit ihren Großeltern nach Nizza.

Noch in Villefranche diagnostizierte Dr. Georges Moridis, Ottilie Moores Arzt, bei Charlottes Großmutter eine Depression. In Nizza versucht sie sich zu erhängen. Charlotte entdeckt sie gerade noch rechtzeitig und rettet sie. Die Großmutter klagt über die zahlreichen Selbstmörder in ihrer Verwandtschaft, darunter ihre beiden Töchter. Auf diese Weise erfährt Charlotte, dass ihre Mutter nicht an einer Grippe starb, sondern sich aus einem Fenster stürzte. Genauso macht es kurz darauf die Großmutter – 13 Jahre nach Franziska und 26 Jahre nach Charlotte Grunwald. Am 8. März 1940 wird sie beerdigt.

Die Franzosen bringen Charlotte Salomon und ihren Großvater im Juni 1940 ins Camp de Gurs nordöstlich der Pyrenäen. Unter den Internierten befindet sich auch Hannah Arendt. Wegen des Alters und Gesundheitszustandes ihres Großvaters erreicht Charlotte, dass er mit ihr zusammen entlassen wird. Zwei Tage dauert die Busfahrt zurück nach Nizza.

Die Ereignisse und Enthüllungen machen Charlotte Salomon schwer zu schaffen. Georges Moridis drängt sie, zu malen. Sie folgt dem Rat und stürzt sich in die Arbeit, setzt sich künstlerisch mit ihrem Leben auseinander. Marthe Pécher, die das Hotel „La Belle Aurore“ in Saint-Jean-Cap-Ferrat betreibt, stellt Charlotte Salomon kostenlos ein Zimmer zur Verfügung, damit sie ungestört arbeiten kann. Innerhalb von eineinhalb Jahren entsteht ein Zyklus von Gouachen mit Texten, eine Geschichte zum Lesen und Anschauen, ein „Singespiel“, dem Charlotte Salomon den Titel „Leben? oder Theater?“ gibt. Sie widmet es Ottilie Moore, die inzwischen wieder in den USA lebt, packt alle Blätter in einen Koffer und vertraut ihn Georges Moridis an. Zur Erklärung sagt sie: „Das ist mein ganzes Leben.“ Anschließend zieht sie wieder zu ihrem Großvater in die Villa L’Ermitage.

Der Greis stirbt im Frühjahr 1943. Charlotte Salomon gesteht in einem Brief, ihn vergiftet zu haben. David Foenkinos hält es für möglich:

Mit seinem ewigen Groll und der Geringschätzung ihrer Arbeit.
Und durch die sexuelle Bedrohung, die er darstellte.

Im Juni 1943 heiratet Charlotte Salomon den auf die 40 zugehenden, 1939 vor den Nationalsozialisten geflohenen Österreicher Alexander Nagler, einen früheren Liebhaber Ottilie Moores. Georges Moridis und seine Frau fungieren als Trauzeugen.

Seit November 1942 steht das Département Alpes-Maritimes unter italienischer Besatzung. Charlotte Salomon und Alexander Nagler fühlen sich deshalb in der Villa L’Ermitage in Villefranche-sur-Mer einigermaßen sicher. Aber am 8. September 1943 kapituliert Italien, und die Deutschen übernehmen das Gebiet. SS-Hauptsturmführer Alois Brunner kommt nach Südfrankreich, auch nach Nizza, um dort systematisch Juden aufzuspüren. Für Denunziationen gibt es 1000 Francs Belohnung. Jean Chaigneau, der Präfekt des Départements Alpes-Maritimes, lässt Verwaltungsunterlagen mit Hinweisen auf Juden vernichten und behauptet dann gegenüber den Deutschen, die Italiener hätten sie mitgenommen. Damit rettet er Tausenden das Leben.

Aber am 21. September 1943 werden die Deutschen durch einen Telefonanruf auf die jüdische Künstlerin in der Villa L’Ermitage aufmerksam gemacht. Als Charlotte Salomon abgeholt wird, besteht Alexander Nagler darauf, ebenfalls mitgenommen zu werden: „Ihr müsst mich auch festnehmen: Ich bin Jude!“

Am 27. September treffen beide im Sammellager Drancy östlich von Paris ein. Dort trennt man sie. Im Viehwagen des Zuges, mit dem sie nach Auschwitz deportiert werden, sind sie noch einmal zusammen. Charlotte Salomon ist schwanger. Sie wird gleich nach der Ankunft in Auschwitz vergast. Alexander Nagler stirbt weniger als drei Monate später an Erschöpfung.

Paula Lindberg und Albert Salomon wurden im Mai 1943 in den Niederlanden verhaftet und im Lager Westerbork eingesperrt. Als der Chirurg bei der Sterilisation von Jüdinnen eingesetzt werden soll, erreicht er, dass er zusammen mit seiner angeblichen Assistentin Paula Lindberg das Lager verlassen darf, um seine medizinischen Instrumente aus Amsterdam zu holen. Die beiden nutzen die Chance und tauchen unter. 1947 fahren sie zu Ottilie Moore, die seit kurzem wieder in ihrer Villa L’Ermitage in Villefranche-sur-Mer wohnt. Dr. Moridis hat ihr Charlotte Salomons Koffer gebracht. Zögernd überlässt die Amerikanerin das Kunstwerk den Eltern der Ermordeten.

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Der französische Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmregisseur David Foenkinos (* 1974) bringt sich selbst in seine Biografie der Künstlerin Charlotte Salomon mit ein. Er schildert, wie er eines Tages, während er sich gerade mit dem Kunsthistoriker Aby Warburg (1866 – 1929) beschäftigt, auf ihre Bilder stößt. Eine Bekannte hat ihn auf die Ausstellung hingewiesen.

Ich sah in Leben? Oder Theater? alles, was ich an Kunst mag.
All das, was mich seit Jahren beschäftigte.
Warburg und die Malerei.
Deutsche Literatur.
Musik und Fantasie.
Verzweiflung und Wahnsinn.
Alles war da.
Und leuchtete in schillernden Farben.

Er überlegt, ob er aus Charlotte Salomons Geschichte einen Roman machen könnte und welche Form dieser haben sollte. Während er daran arbeitet, schaut er sich an mit Charlotte Salomons Leben verbundenen Orten um.

Die Stolpersteine vor dem Haus in der Wielandstraße [in Berlin] erinnern an drei Personen.
An Paula, Albert und Charlotte.
Am Gebäude ist jedoch nur eine Gedenktafel angebracht.
Für Charlotte Salomon.

In Villefranche-sur-Mer spricht er mit Kika Moridis-Frouté, der 1941 geborenen Tochter des Arztes Dr. Georges Moridis, der Charlotte Salomon und deren Großeltern behandelt hatte. Man sagt ihm, dass es noch immer Leute gebe, die wissen, wer Charlotte Salomon 1943 denunzierte. Ottilie Moores Villa L’Ermitage in Villefranche wurde 1968 abgerissen, um Platz für den Bau einer Luxusvilla zu schaffen. Am Tor trifft David Foenkinos auf eine alte Frau, die seit den Sechzigerjahren dort wohnt und weiß, wer Ottilie Moore war.

Die Frau macht einen verbitterten, verängstigten und dummen Eindruck.

Als David Foenkinos ein paar Fragen stellen möchte, wirkt sie gereizt. Sie fordert ihn zum Weggehen auf, und als er darum bittet, wenigstens einen Blick in den Garten werfen zu dürfen, droht sie, den Hausmeister zu rufen.

Es ist mir unbegreiflich.
Wie jemand so feindselig sein kann.

Als wichtigste Quelle nennt David Foenkinos den autobiografischen Zyklus „Leben? oder Theater?“ Es ist leicht zu erkennen, wen die Künstlerin mit den Figuren Charlotte und Albert Kann, Paulinka Bimbam, Franziska Knarre und Amadeus Daberlohn gemeint ist, aber es handelt sich selbstverständlich um eine Darstellung aus Charlotte Salomons subjektiver Sicht, und wir wissen nicht, wo sie absichtlich von den Tatsachen abweicht, beispielsweise wenn es um ihre Beziehung zu Alfred Wolfsohn geht. „Leben? oder Theater?“ ist ein Kunstwerk ohne Anspruch auf eine völlige Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Dementsprechend mischen sich auch in David Foenkinos‘ Roman „Charlotte“ Fiktion und Fakten.

„Leben? oder Theater?“ besteht aus 769 Gouachen, die an Marc Chagall erinnern. Verblüffend sind die leichten Linien und freundlichen Farben dieser in einer düsteren Lebensphase entstandenen Gemälde. Charlotte Salomon hat sich nicht auf Bilder beschränkt, sondern sie wie Comics durch Figurenrede und Erzählung ergänzt. Außerdem hat sie Titel von Musikstücken angegeben und den Zyklus als gemaltes Theaterstück bzw. Singspiel aufgefasst.

David Foenkinos hat für seinen Roman ebenfalls eine besondere Erzählweise gewählt: Er beginnt jeden der kurzen, schlichten Sätze in einer neuen Zeile. Damit akzentuiert er den Rhythmus der Sprache.

Trotz der nüchternen Darstellung handelt es sich bei „Charlotte“ um eine erschütternde Lektüre.

Auf dem Cover sehen wir ein Selbstporträt der Künstlerin Charlotte Salomon, eine um 1940 entstandene Gouache.

Den Roman „Charlotte“ von David Foenkinos gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Devid Striesow (Regie: Joachim Hoell, ISBN 978-3-8445-1920-4).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Deutsche Verlags-Anstalt

Charlotte Salomon (kurze Biografie)

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