Louise Erdrich : Liebeszauber

Liebeszauber
Originalausgabe: Love Medicine, 1984 Liebeszauber Übersetzung: Helga Pfetsch Rowohlt Verlag, Reinbek 1986 ISBN 3-498-01634-2, 350 Seiten Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2008 ISBN: 978-3-518-45989-8, 469 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In der 1934 beginnenden und 1984 endenden Familienchronik "Liebeszauber" erzählt Louise Erdrich von zwei Chippewa-Clans. Während es sich bei den meisten Frauen um starke, leidenschaftliche Persönlichkeiten handelt, kommen die Männer nicht mit ihrem Leben zurecht: Entwurzelung, Erfolglosigkeit, Alkoholismus machen ihnen zu schaffen. Mit einem Dutzend Figuren und deren Geschichten veranschaulicht Louise Erdrich die Situation der Indianer.
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Kritik

Die 18 bis auf eine Ausnahme chronologisch angeordneten Kapitel des Romans "Liebeszauber" werden von wechselnden Figuren erzählt. Louise Erdrich reiht tragische, komische und groteske Episoden aneinander und entwickelt so ein facettenreiches Panorama.
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Im Alter von vierzehn Jahren steigt Marie Lazarre 1934 zum Kloster des Heiligen Herzens hinauf und fragt nach Schwester Leopolda. Die meint:

„Eitel bist du nicht […] Du bist zu ehrlich dafür, wenn du in den Spiegel guckst. Klug bist du auch nicht. Du hast keinen Ehrgeiz, loszukommen. Du hast zwei Möglichkeiten: Erstens, du kannst einen Taugenichts von einem Indianer heiraten, seine Blagen in die Welt setzen und wie ein Hund sterben. Oder zweitens, du kannst dich Gott schenken.“ (Seite 67)

Als Marie versehentlich einen Messbecher fallen lässt, zwingt Leopolda sie, ihn mit bloßen Händen unter dem heißen Eisenofen hervorzuholen. Mit dem Fuß drückt die Nonne das Mädchen zu Boden und verbrüht es dann auch, indem sie einen auf dem Herd stehenden Wasserkessel über Marie ausleert. Sobald das Kind sich einigermaßen von den Verletzungen erholt hat, muss es Leopolda beim Brotbacken helfen. Um sich zu rächen, versucht Marie, die Klosterschwester in den offenen Ofen zu stoßen, aber Leopolda stützt sich mit einem Schürhaken ab, rammt Marie die sonst zum Anstechen der Brotlaibe verwendete Gabel durch die Hand und schlägt sie mit dem Schürhaken bewusstlos. Als Marie wieder zu sich kommt, stehen die Nonnen staunend um sie herum, denn Leopolda hat behauptet, bei der Wunde an der Hand des Kindes handele es sich um ein Stigma des Gekreuzigten. Daraufhin läuft Marie davon.

Unterwegs trifft sie auf den neunzehnjährigen Nector Kashpaw. Der stellt sich ihr in den Weg, denn er hält sie für eine Diebin. Bei dem Gerangel spürt er plötzlich Maries Brüste, die er bis dahin noch nicht bemerkte. Eh er sich versieht, liegt er mit Marie am Boden, und sie spreizt die Beine. Erst nachdem er sie defloriert hat, wird ihm bewusst, dass man sie beispielsweise vom Kloster aus sehen kann. Darauf legte es Marie wohl an. Als er ihre Verletzungen entdeckt, begreift er, was für eine starke Persönlichkeit sie ist, denn die Rauferei muss für sie sehr schmerzhaft gewesen sein.

Bis zu diesem Augenblick beabsichtigte Nector Kashpaw, Lulu Nanapush zu seiner Frau zu machen. Als Lulu einige Jahre später erfährt, dass er nun stattdessen Marie heiraten wird, rudert sie trotzig auf die Insel hinüber, auf der Moses Pillager als einziger Bewohner in einer Höhle haust. Sie verbringt einige Monate mit dem skurrilen Einsiedler und wird schwanger. Daraufhin verlässt sie Pillager und die Insel.

Als ihre Schwester Lucille Lazarre 1948 stirbt, nimmt Marie Kashpaw deren neunjährige Tochter June auf, widerstrebend, denn sie weiß kaum, wie sie ihre eigenen sechs noch lebenden Kinder ernähren soll. (Ein Sohn und eine Tochter wurden nicht einmal zwei Jahre alt.)

Lulu hatte inzwischen Henry Lamartine geheiratet. Der kommt 1950 ums Leben, als er betrunken ist, mit seinem Auto quer über den Gleisen stehenbleibt und von einem Zug erfasst wird. Offiziell handelt es sich um einen Unfall, aber einige glauben, Henry habe sich das Leben genommen [Suizid], weil er die Nymphomanie seiner Ehefrau nicht länger ertrug. Lulus sechs Söhne sehen alle verschieden aus; auch der neun Monate nach Henrys Tod geborene Henry Lamartine jr. ähnelt keinem seiner Brüder.

1952 sehen Nector Kashpaw und Lulu Lamartine sich wieder. Um ihr neues Verhältnis zu verheimlichen, klettert Nector nachts durch Lulus Fenster. Sie wird schwanger und bringt 1953 ihren achten Sohn zur Welt: Lyman. Fünf Jahre dauert die heimliche Beziehung zwischen Nector und Lulu. Dann lässt Lulu sich mit ihrem Schwager Beverly Lamartine ein, und Nector begreift, dass er seine Geliebte nicht länger halten kann, wenn er sich nicht von seiner Ehefrau Marie trennt. Deshalb hinterlässt er Marie, die gerade mit ihrer Tochter Zelda die todkranke Nonne Leopolda besucht, einen Abschiedsbrief und geht zu Lulu. Sie ist nicht da. Nectors schriftlicher Heiratsantrag fällt zu Boden und wird kurz darauf durch eine von Nector weggeworfene Zigarettenkippe in Brand gesetzt. Tatenlos sieht Nector zu, wie die Flammen auf das Haus übergreifen und es zerstören.

Lyman Lamertine arbeitet sich vom Tellerwäscher im „Joliet Café“ zum Besitzer hoch, aber ein Tornado reißt das Gebäude weg und zwingt ihn, von vorn anzufangen.

Sein Halbbruder Henry kehrt verstört aus dem Vietnam-Krieg zurück. 1974 wird Lyman Zeuge, wie der Vierundzwanzigjährige in einen Fluss springt, von der Strömung mitgerissen wird und ertrinkt.

Im Jahr davor traf Henry Lamartine jr. in Fargo zufällig Albertine Johnson und ging mit ihr in ein Hotelzimmer. Albertine ist die Tochter von Zelda, einer der Töchter von Marie und Nector Kashpaw, und eines Schweden namens Johnson, der bald nach der Eheschließung mit Zelda verschwand. Mit fünfzehn lief Albertine Johnson 1973 von zu Hause fort.

1980 befreundet sich Albertine Johnson mit Henrys Halbbruder Gerry Nanapush und dessen hochschwangere Lebensgefährtin Dot Adare. Der Fünfunddreißigjährige hat die Hälfte seiner Zeit im Gefängnis oder auf der Flucht vor der Polizei verbracht. Ursprünglich wurde er wegen einer Schlägerei mit einem Cowboy verhaftet, der behauptet hatte, ein Chippewa sei zugleich ein Nigger. Inzwischen wäre er längst ein freier Mann, wenn er die Strafe abgesessen hätte, statt immer wieder auszubrechen. Als Dot von ihrer Tochter Shawn entbunden wird, befindet Gerry sich erneut im Gefängnis.

June, die ihre Pflegeeltern Marie und Nector Kashpaw nach einiger Zeit verlassen hatte und bei Nectors unverheiratetem Zwillingsbruder Eli aufgewachsen war, vermählte sich gegen den Willen von Marie und Nector Kashpaw mit deren Sohn Gordie Kashpaw. Aber die Ehe scheiterte; June trennte sich von ihrem Mann und ließ auch ihren 1962 geborenen Sohn King zurück. 1981 stirbt June im Alter von zweiundvierzig Jahren.

Gordie wird daraufhin alkoholkrank. Einmal fährt er im betrunkenen Zustand ein Reh an, und weil er den Kofferraumschlüssel nicht dabei hat, zerrt er das blutende Tier auf die Rücksitzbank, um es irgendwo gegen Schnaps einzutauschen. Als das Reh während der Fahrt unerwartet wieder zu sich kommt, haut ihm Gordie einen Wagenheber zwischen die Augen. Minuten später bildet er sich ein, June ermordet zu haben und fährt deshalb zu Schwester Mary Martin de Porres, um ihr sein Verbrechen zu beichten. Entsetzt geht sie zum Auto, aber im Fond liegt statt einer Frauenleiche ein Tierkadaver.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Junes unehelicher Sohn Lipsha wuchs bei Marie und Nector Kashpaw auf und weiß noch immer nichts von seinen leiblichen Eltern. Als Nector im Alter dement wird und seine Frau darunter leidet, dass er sie nicht mehr liebt, denkt der achtzehnjährige Lipsha sich 1982 einen Liebeszauber aus: Da er weiß, dass Gänse sich ein Leben lang treu bleiben, will er ein solches Paar schießen und seinen Pflegeeltern die Herzen zum Essen geben. Er geht auf die Jagd, aber es gelingt ihm nicht, ein Gänsepaar zu erlegen. Also kauft er auf dem Heimweg zwei gefrorene Truthähne im Supermarkt. Marie bereitet die Herzen zu, isst eines davon und setzt das andere Nector vor. Der sträubt sich dagegen, es zu essen. Schließlich bringt Marie ihn dazu, es in den Mund zu nehmen, aber er schiebt es von einer Seite auf die andere, bis sie so zornig wird, dass sie ihm auf die Schulter schlägt. Dabei verschluckt Nector sich und erstickt.

Erst mit neunzehn wird Lipsha von Lulu über seine Eltern aufgeklärt. Gerry Nanapush hatte ihn mit June Morrissey gezeugt. Lipsha ärgert sich, weil offenbar alle bis auf ihn darüber Bescheid wussten. Er stiehlt Maries Ersparnisse und macht sich auf die Suche nach seinem Vater.

In den Nachrichten hört er, dass Gerry während eines Transports floh.

Lipsha besucht gerade seinen Halbbruder King Kashpaw und dessen Ehefrau Lynette, als Gerry dort auftaucht und sich dafür rächen will, dass King sein Vertrauen missbrauchte und ihn durch eine Zeugenaussage schwer belastete. Als Gerry erfährt, dass King von dem Geld, das ihm Junes Lebensversicherung ausbezahlte, ein Auto kaufte, will er es für seine weitere Flucht haben. Plötzlich hämmern Polizisten an die Tür. Kings fünfjähriger Sohn King Howard jr. öffnet ihnen, aber Gerry ist bereits verschwunden. Lipsha nimmt die Autoschlüssel und fährt los. Aus dem Kofferraum hört er Geräusche, und als er nachsieht, findet er seinen Vater. Sie fahren zur kanadischen Grenze.

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In ihrem Roman „Liebeszauber“ erzählt Louise Erdrich die Geschichte von zwei Familienclans aus dem Chippewa-Reservat in North Dakota. Die 1934 beginnende und 1984 endende Familienchronik beschäftigt sich mit Figuren aus drei Generationen. Während es sich bei den meisten Frauen um starke, leidenschaftliche Persönlichkeiten handelt, kommen die Männer nicht mit ihrem Leben zurecht: Entwurzelung, Erfolglosigkeit, Alkoholismus machen ihnen zu schaffen. Mit einem Dutzend Figuren und deren Geschichten veranschaulicht Louise Erdrich die Situation der Indianer.

Das erste Kapitel in „Liebeszauber“ spielt 1981; die übrigen siebzehn Kapitel sind chronologisch von 1934 bis 1984 angeordnet. Dabei wechselt immer wieder die Erzähler-Figur. Diesen Perspektivenwechsel nutzt Louise Erdrich allerdings nur selten, um ein Ereignis aus verschiedenen Blickwinkeln darzustellen. Sie entwickelt auch keine stringente Handlung, sondern reiht tragische und komische, groteske und skurrile, märchenhafte und melodramatische Episoden aneinander. Auf diese Weise entwickelt sie ein buntes, facettenreiches Panorama.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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