Anna Enquist : Streichquartett

Streichquartett
Originalausgabe: Kwartet De Arbeiderspers, 2014 Streichquartett Übersetzung: Hanni Ehlers Luchterhand Literaturverlag, München 2015 ISBN: 978-3-630-87467-8, 288 Seiten ISBN: 978-3-641-15294-9 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Ärztin Carolien, die Sprechstundenhilfe Heleen, der Geigenbauer Jochem und Hugo, der Leiter des Musikzentrums, tref­fen sich regelmäßig auf Hugos Haus­boot, um zu musizieren. Beim Zusammen­spiel im Streichquartett gelingt es ihnen, ihre persönlichen Kümmernisse für eine Weile auszublenden. Carolien ist die einzige dem über 80 Jahre alten Cellisten Reinier van Aalst verbliebene Schülerin. Der Greis hat panische Angst davor, in ein Heim abgeschoben zu werden ...
mehr erfahren

Kritik

Anna Enquist nimmt sich viel Zeit, die Charaktere mit großer Empathie auszuleuchten. "Streichquartett" ist eigentlich ein stiller, melancholischer Roman, aber die Autorin lässt ihn im letzten Fünftel zu einem hane­büche­nen Actionthriller werden.
mehr erfahren

Das Quartett: Carolien, Jochem, Heleen, Hugo

Carolien studierte zwar drei Jahre lang bei dem Cellisten Reinier van Aalst am Konservatorium, wechselte dann aber zur Medizin und wurde Ärztin statt Musikerin. Das ist schon lange her. Inzwischen betreibt sie mit ihrem 49-jährigen Kollegen Daniel van Gelder eine Gemeinschaftspraxis. Die mit ihr befreundete Sprechstundenhilfe Heleen spielt Bratsche, auch mit Carolien, deren Ehemann Jochem und Hugo, dem Leiter des Musikzentrums, in einem privaten Streichquartett.

Heleen und ihr Ehemann Henk haben drei Söhne. Es belastet die Sprechstundenhilfe, dass sie immer wieder ältere Patienten aus der Kartei nehmen muss, weil sie in Alters- und Pflegeheime gebracht werden.

Früher, ja, früher gab es die häusliche Pflege. Ganze Schwärme von Betreuern, die einen für die Einkäufe, die anderen für die Medikation, und wieder andere fürs Waschen. Diese Dienstleistungen wurden Jahr für Jahr weiter zusammengestrichen, bis nur noch ein sinnloses bürokratisches Netzwerk übrig war. Dann wurden die „Geriatrischen Stützpunkte“ eingerichtet. Das erwies sich als gewaltige Kostenersparnis. „Geriatrischer Stützpunkt“ sagen wir in der Praxis, respektlos eigentlich. Es ist schwer, Menschen loszulassen, um die man sich so lange gekümmert hat. Man schickt sie zur Indikationskommission, und die schickt sie in ein Alten- oder Pflegeheim, Häuser, die wir nicht kennen und in die wir nicht gehen. Die hausärztliche Versorgung wird von einem Altenpflegeteam übernommen.

Ehrenamtlich engagiert Heleen sich in einer Gruppe, die mit Strafgefangenen korrespondiert. Einer ihrer Adressaten heißt Olivier Helleberg. In ihren Briefen erzählt Heleen von dem Streichquartett auf Hugos in der Nähe des Justizgebäudes verankertem Hausboot, und zu ihrer Verwunderung beginnt der Verbrecher sich offenbar für Musik zu interessieren. Olivier Helleberg wurde wegen Mordes und Erpressung zu 18 Jahren Haft verurteilt.

Als sich die Ministerin für Bauwesen von einem Kran in einer Gondel in die Höhe ziehen lässt, um sich eine neu angelegte Bahntrasse aus der Vogelperspektive anzuschauen, reißt die Gondel aus der Verankerung und stürzt vor laufenden Fernsehkameras ab. Die Politikern wird ebenso zerschmettert wie der Leiter des Bauunternehmens, der mit ihr in der Gondel war. Es sei kein Unfall gewesen, heißt es, und in den Medien wird darüber spekuliert, dass Olivier Helleberg den Mord in Auftrag gegeben habe.

Weil die Stadt das Gebäude, in dem sich Heleen und die anderen Briefeschreiber regelmäßig treffen, aus finanziellen Gründen verkaufen will, steht der von ihnen benutzte Raum nicht länger zur Verfügung, und die Gruppe löst sich auf.

Hugo studierte Geige am Konservatorium. Seine Ehe scheiterte vor drei Jahren, als die Tochter geboren wurde, aber die Eltern teilen sich das Sorgerecht für Laura. Weil das allgemeine Interesse für Musik zurückgegangen ist, organisiert Hugo inzwischen weniger Konzerte als Vorträge und Konferenzen, Verkaufsbörsen, Modeschauen und Betriebsfeste. Die Büros des Nationalen Kammerchors und das Hauptstadtorchesters im Zentrum wichen wegen der hohen Mieten einer Anwaltskanzlei, einem Wassertaxiunternehmen und einer Agentur, die rumänische Hilfsarbeiter für den Blumengroßmarkt anwirbt. Die zuständige Dezernentin ruft Hugo an: Sie möchte einen stilvollen Raum für Empfänge haben, und als er sagt, er werde ihr ein Angebot schicken, lacht sie ihn aus, denn sie erwartet eine für die Stadt kostenlose Lösung. Bald darauf erfährt Hugo, dass ein Konkurs nur noch durch den Verkauf der Immobilie abzuwenden sei und es bereits einen chinesischen Interessenten gebe.

Hugo wohnt auf einem Hausboot in der Nähe des Zentrums. Dort trifft sich das Streichquartett regelmäßig zum Üben.

Vom schwindenden Interesse für Musik ist auch Jochem betroffen. Er ist Geigenbauer, aber eine Nachfrage nach neuen Instrumenten gibt es so gut wie gar nicht mehr. Seine Arbeit besteht fast nur noch aus Reparaturen.

Reinier van Aalst

Carolien ist die einzige Schülerin, die dem inzwischen über 80 Jahre alten Cellisten Reinier van Aalst verblieben ist. Er kennt sie und Hugo, seit sie bei ihm studierten, und wenn an seinem Cello etwas zu reparieren ist, wendet er sich an Caroliens Ehemann Jochem.

Als der Greis den Müll hinausbringen will, merkt ein dunkelhäutiger Nachbarjunge, dass ihm das Gehen schwerfällt und bietet ihm seine Hilfe an. Bald darauf klingelt er und fragt, ob er für ihn zum Einkaufen gehen soll.

Du meine Güte, denkt Reinier, was tue ich? Ich lasse ihn einfach herein, in mein Haus. Er wird seinen kriminellen Brüdern erzählen, was ich hier alles habe, die Bögen, die Tausende wert sind, das Cello, für das man bei der Versteigerung eine halbe Million bekäme. Wenn ich so unglaublich dumm bin, brauche ich nicht lange zu warten, bis sie mich ausrauben. Selbst schuld. Ich bin nicht ganz bei Trost.

Reinier van Aalst weiß, dass er kaum noch in der Lage ist, sich in der Wohnung selbst zu versorgen. Und er hat panische Angst davor, von den Behörden zwangsweise in ein Alters- oder Pflegeheim eingewiesen zu werden. Fremden gegenüber ist er misstrauisch, aber der marokkanische Junge entwaffnet ihn nicht nur mit seiner Hilfsbereitschaft, sondern vor allem mit seinem Interesse an Musik. Driss, so heißt er, bittet den alten Mann immer wieder, ihm etwas auf dem Cello vorzuspielen und hört dann aufmerksam zu.

Als Reinier van Aalst in der Zeitung liest, dass das Konzert eines auswärtigen Quartetts wegen des Erfolgs wiederholt werden soll, will er Karten für sich und den Jungen kaufen. Aber als er zum Telefon greift, um in dem (noch geöffneten) Musikzentrum anzurufen, stellt er fest, dass bei der Zeitungsanzeige keine Rufnummer angegeben ist. Weil sein Telefonbuch zehn Jahre alt, versucht er es über die Auskunft.

Ein Euro pro Minute […]. Sowie er eine Stimme hört, beginnt er zu sprechen. Die Stimme redet unbeirrbar weiter: „Es sind noch zwölf Wartende vor Ihnen, legen Sie nicht auf, wir sind baldmöglich für Sie da.“

Es dauert einige Zeit, bis er eine Nummer genannt bekommt. Er wählt sie.

„Für Fragen zum Programm drücken Sie die Eins. Für Fragen finanzieller Art drücken Sie die Zwei. Für Buchungen drücken Sie die Drei. Für Restaurant und Bar drücken Sie die Vier. Für Büro und Verwaltung drücken Sie die Fünf.“

Irgendwie gelangt er an einen Barkeeper, der ihn fragt, ob er einen Tisch bestellen wolle und ihn dann an eine weibliche Kollegin im Restaurant weitergibt.

„Da sind Sie hier an der falschen Adresse“, sagt die Frau. „Für Karten müssen Sie auf die Website. Einfach anklicken, in welche Vorstellung Sie gehen möchten. Sie können auch gleich einen Platz auswählen und mit Kreditkarte bezahlen. Es ist sehr benutzerfreundlich.“

Über einen Computer verfügt Reinier van Aalst jedoch nicht. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als mit der Straßenbahn zum Musikzentrum zu fahren. Als er es betritt, sieht er eine zehn Meter breite Treppe mit schätzungsweise fünfzig Stufen vor sich. Eine Frau weist ihn darauf hin, dass er auch den Fahrstuhl nehmen könne. Es wird ihm schwindlig; er bricht zusammen. Als er zu sich kommt, hört er, dass ein Krankenwagen gerufen werden soll. Das will er auf keinen Fall, denn dann droht ihm das Heim. Zufällig kommt Hugo dazu. Der bringt ihn nach Hause.

Der Schicksalsschlag, der Carolien und Jochem aus der Bahn warf

An Daniels 50. Geburtstag überraschen ihn Carolien, Jochem, Hugo und Heleen mit Wolfgang Amadeus Mozarts sorgfältig einstudiertem Dissonanzenquartett in C-Dur, KV 465.

In diesen Momenten verdrängen sie alle ihre Sorgen. Das gilt besonders für Carolien und Jochem, deren Söhne im Alter von zehn bzw. zwölf Jahren auf der Heimfahrt von einem Schulausflug durch einen Unfall ums Leben kamen. Jochem war damals geschäftlich in Paris. Heleen rief ihn an. Carolien war dazu nicht in der Lage. Sein Geschäftspartner fuhr ihn noch in der Nacht 600 Kilometer weit nach Hause. Unterwegs rief er Hugo an, der sich sofort aufs Rad setzte und zu Carolien fuhr.

Weil Jochem inzwischen versucht, den Verlust der Söhne zu verkraften, aber Carolien sich an ihre Trauer klammert, droht ihre Ehe in Brüche zu gehen.

Kurz nach dem Geburtstagsständchen für Daniel trifft sich das Streichquartett erneut zum Üben auf Hugos Hausboot. Ein Bote bringt einen Blumenstrauß, mit dem Daniel sich noch einmal für die gelungene Überraschung bedankt. Die Tür bleibt offen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Spoiler

Nach einer Weile fällt einem nach dem anderen auf, dass auf dem Sofa ein Fremder sitzt. Sie kennen das Gesicht aus dem Fernsehen: Olivier Helleberg! Er hat die Partitur in der Hand, die Carolien sich von Reinier van Aalst ausgeliehen hat. Der Schwerverbrecher nutzte eine unverhoffte Gelegenheit, um spontan aus dem nahen Gefängnis auszubrechen. Heleen hatte ihm von dem Streichquartett auf dem Hausboot geschrieben, und als er die Musik hörte und die Tür offen vorfand, kam er herein.

Das Quartett soll weiterspielen, denn dann sieht es für die Polizei auf dem Hausboot unverdächtig aus. Zwischendurch müssen alle ihre Handys auf den Tisch legen, dem Mörder das verfügbare Bargeld und die Schlüssel für eines der Autos übergeben. Um sich abzusichern, will er eine Geisel mitnehmen. Seine Wahl fällt auf Carolien, aber als Laura zur Tür hereinkommt und klagt, sie könne nicht schlafen, beschließt er, das Kind mitzunehmen. Die Polizei wird es nicht wagen, das Leben eines kleinen Mädchens aufs Spiel zu setzen.

In dem Augenblick, in dem Hugo einen Bräter durch die Fensterscheibe wirft und um Hilfe schreit, explodiert das Hausboot.

Die Polizei birgt Laura, Carolien, Jochem, Heleen und Hugo aus dem Wasser, kriegt aber Helleberg nicht zu fassen.

Bei Reinier van Aalst klopft ein völlig durchnässter Mann ans Fenster. Der Greis öffnet dem triefenden Fremden die Tür, erklärt ihm, wo er trockene Kleidung findet und rät ihm, wegen des Gestanks zu duschen. Während der Mann nach oben geht, schaltet Reinier van Aalst das Fernsehgerät ein. So erfährt er von dem Ausbrecher und dem Hausboot, auf dem ein Streichquartett musizierte, bevor es in die Luft flog. Da begreift Reinier van Aalst, wen er ins Haus gelassen hat.

Es klingelt zweimal. Es ist Driss. Er steht mit seinem Vater draußen, erklärt Reinier van Aalst, er habe den ausgebrochenen Mörder gesehen und drängt ihn, das Haus zu verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Als der Greis das halbkreisförmig aufgestellte schwer bewaffnete Sondereinsatzkommando der Polizei wahrnimmt, befürchtet er, dass es den Auftrag hat, ihn ins Alters- oder Pflegeheim zu bringen und ist enttäuscht über Driss, der ihn wohl verraten hat.

Eine Falle, denkt Reinier. Sie haben einen triefnassen Kollegen hineingeschickt, der mich nach draußen locken sollte. Und gleich zerren sie mich in den Transporter dort.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Anna Enquist beklagt in ihrem Roman „Streichquartett“ das Zusammenstreichen (!) öffentlicher Mittel für kulturelle Einrichtungen im Allgemeinen und die Förderung von Musik im Besonderen. Zugleich ist auch Kritik an Bildungsbürgern herauszuhören, die erwarten, dass der Staat allein das Kulturleben finanziert.

„Streichquartett“ dreht sich um vier Menschen, denen es gelingt, durch ihr musikalisches Zusammenspiel regelmäßig aus dem Alltag auszubrechen und ihre Kümmernisse für eine Weile auszublenden – bis die Realität sie auf schreckliche Weise einholt.

Wichtig ist neben den Mitgliedern des Streichquartetts auch der über 80 Jahre alte Cellist Reinier van Aalst, mit dem der Roman beginnt und endet. Anna Enquist veranschaulicht, wie Staat und Gesellschaft alte Menschen, die nicht mehr ohne Pflegedienste zurechtkommen, in kostengünstigere Alters- und Pflegeheime abschieben. Es ist anrührend, mitzuerleben, wie dieser hilfsbedürftige alte Musiker in Panik gerät, sobald er befürchtet, es komme jemand, um ihn zwangsweise ins Heim zu bringen.

Anna Enquist nimmt sich viel Zeit, die Charaktere auszuleuchten. Weil sie offenbar damit auch – wie in „Kontrapunkt“ – den Tod ihrer 2001 im Alter von 27 Jahren bei einem Verkehrsunfall in Amsterdam gestorbenen Tochter Margit zu verarbeiten versucht, kann sie sich mit großer Empathie in die Figur Carolien hineinversetzen. „Streichquartett“ ist eigentlich ein stilles, melancholisches Buch, aber im letzten Fünftel mutiert es unvermittelt zum Actionthriller, und das passt überhaupt nicht, zumal dieser Teil der Handlung ebenso unrealistisch wie hanebüchen ist.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

Anna Enquist: Das Meisterstück
Anna Enquist: Denn es will Abend werden

Roberto Saviano - Gomorrha
"Gomorrha" ist eine zum Buch aufgeblasende Reportage. Die Darstellung ist unsystematisch, um nicht zu sagen verworren, und Roberto Savianos Ehrgeiz, auf literarischem Niveau zu schreiben, führt zu stilistischen Entgleisungen.
Gomorrha