Anna Enquist : Das Meisterstück

Das Meisterstück
Originalausgabe: Het meesteratuk Uitgeverij de Arbeiderspers, Amsterdam 1994 Das Meisterstück Übersetzung: Hanni Ehlers Luchterhand Literaturverlag, München 1995 Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997 ISBN: 3-423-12423-7, 316 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 47 Jahre alte Maler Johan Steenkamer verschickt Einladungen zu einer Vernissage im Städtischen Museum in Amsterdam, auch an seinen Vater Charles, von dem er seit seiner Kindheit nichts mehr gehört hat. Außer Charles Steenkamer folgen alle der Einladung: Johans Mutter Alma, sein älterer Bruder Oscar, seine Ex-Frau Ellen und die Söhne, Ellens Freundin Lisa, Johans Geliebte Zina. Die unterdrückten Konflikte in den Beziehungen führen bei der Zusammenkunft zur Katastrophe ...
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Kritik

In dem aus wechselnden Perspektiven erzählten Familienroman "Das Meisterstück" von Anna Enquist geht es um Charaktere und psychologische Entwicklungen, Konflikte und Traumata.
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Die Goldfische haben ihre Jungen aufgefressen. (Seite 7)

Lisa Hannaston hat es nicht verhindert, hat sie nicht beschützt. Die fünfundvierzigjährige Psychiaterin wohnt in einem Dorf zehn Kilometer außerhalb von Amsterdam. Vormittags praktiziert sie in ihrem Haus, nachmittags in der Psychiatrischen Universitätsklinik.

Als Medizinstudentin hatte sie sich auf ein Verhältnis mit dem zwanzig Jahre älteren, verheirateten Pathologie-Dozenten Gerard Blecker eingelassen, der sein Boot als Liebesnest herrichtete. Als die Ehefrau dahinterkam, ließ sie sich scheiden. Lisa und Gerard mieteten gemeinsam eine Wohnung und heirateten nach Lisas Examen. Aber die Ehe scheiterte.

Durch ihre Freundin Ellen Visser lernte Lisa ihren jetzigen Ehemann kennen.

Ihr Verhältnis ist eher kühl, basiert aber auf der starken Verbundenheit zweier Menschen, die sie selbst sein dürfen und einander nicht zu viel abverlangen. (Seite 19)

Lawrence stammt aus New York und ist Architekt. Während des Studiums in London hatte er Johan Steenkamer kennengelernt, und als das Studienjahr des niederländischen Kunststudenten vorbei war, begleitete er ihn nach Holland. Später heirateten Lisa und Lawrence, Ellen und Johan.

Lisa und Lawrence bekamen zwei Kinder, Kay und Ashley; Ellen und Johan zunächst die Zwillinge Peter und Paul und dann die Tochter Sara („Saar“). Das Mädchen starb im Alter von zehn Jahren nach einer Herzklappen-Operation. Ellen trauerte lange um ihre Tochter. Ihr verständnisvoller Chef Nicolaas Bijl zahlte ihr monatelang das Gehalt weiter, obwohl sie unbezahlten Urlaub beantragt hatte. Ellen war in dem Unternehmen von der Schreibkraft zur Personalsachbearbeiterin aufgestiegen und hatte parallel dazu auf Anregung von Nicolaas Bijl Soziologie studiert. Johan, der Dozent und freiberuflicher Maler geworden war, glaubte, die Trauer und Depression seiner Frau nicht ertragen zu können. Der Egozentriker betrog sie mit Studentinnen. Als Peter und Paul eine Klasse wiederholen mussten, nachdem sie den Unterricht häufig geschwänzt hatten, warf Johan seiner Frau vor, die Kinder zu vernachlässigen. Schließlich fuhr er mit seiner Geliebten Zina und einigen anderen Studentinnen und Studenten der Abschlussklasse der Kunstakademie nach Paris. Auch Zinas Freund Mats war dabei. Er wusste von der Liebschaft und brachte Zina immer wieder durch Eifersuchtsszenen dazu, ihm haargenau zu berichten, was sie mit Johan Steenkamer im Bett erlebt hatte.

Ein Jahr nach Saras Tod lud Johan seine Frau überraschend zu einem teuren Abendessen im „Verlorenen Karpfen“ ein. Er freute sich, ihr sagen zu können, dass er ein Gartenhaus gemietet habe und mit ihr und den Zwillingen umziehen wolle. Das Haus gehörte Bob und Sally, einem befreundeten Ehepaar, das auch noch eine Villa in der Stadt besaß und sich eine Weltumsegelung vorgenommen hatte. Ellen war entsetzt, als sie begriff, dass ihr Mann ein Haus gemietet hatte, ohne sich mit ihr abzusprechen. Sie stand auf und verließ das Restaurant. Johan richtete sich im Gartenhaus ein und wartete vergeblich darauf, dass Ellen es sich anders überlegte. Die damals sechzehn Jahre alten Zwillinge blieben auf ihren eigenen Wunsch bei der Mutter, die mit ihnen in eine kleine Mietwohnung in der Stadt zog.

Drei Jahre später, mit neunzehn, gingen Peter und Paul dann eigene Wege. Inzwischen betreiben sie zusammen das auf Angler spezialisierte Reisebüro „Creative Fishing“.

Johan Steenkamer hält seine Söhne für Versager. Er selbst steht vor dem Durchbruch: In ein paar Tagen wird im Städtischen Museum eine Ausstellung von ihm eröffnet. Seine fünfundsiebzig Jahre alte Mutter Alma Hobbema lädt die Gäste zu einem Essen nach der Vernissage im „Verlorenen Karpfen“ ein, denn sie möchte den Erfolg ihres jüngeren Sohnes groß feiern.

1947 wurde Alma von ihrem damals siebenundzwanzig Jahre alten Ehemann Charles Steenkamer wegen einer Sängerin verlassen. Sie zog ihre Söhne Oscar und Johan allein auf.

Alma verteilt und herrscht. Die Brücken zwischen ihren Kindern hat sie von Anfang an systematisch zerschlagen. Sie werden sich nicht zusammentun und gegen sie wenden, sondern versuchen, sich gegenseitig auszulöschen; Johan, weil er keine Konkurrenz erträgt, Oscar aus Bestürzung über das Erscheinen eines Brüderchens, das seine Welt und seine Sicherheit zerstört. (Seite 53)

Als Oscar, der als Kunstkritiker und Konservator des Nationalmuseums in Amsterdam tätig ist, von der bevorstehenden Ausstellung erfährt, sucht er mit Hilfe seiner Sekretärin Keetje Bellefroid nach Bildern seines Vaters, der ebenfalls Maler war. Auf dem Dachboden finden sie vier Gemälde von Charles Steenkamer. Sie stammen aus dem Nachlass des verstorbenen Geigenbauers Leo Bramelaar und wurden dem Nationalmuseum von dessen Sohn geschenkt. Oscar erinnert sich, dass Charles gern auf einer von Leo Bramelaar angefertigten Bratsche gespielt hatte. Seinen Fund verschweigt er zunächst, aber in einem Zeitungsartikel wirft er seinem Bruder vor, durch die opportunistische Rückkehr von der abstrakten zur gegenständlichen Malerei die Kunst verraten zu haben.

Obwohl sich der siebenundvierzigjährige Künstler darüber ärgert, lädt er auf Drängen Almas auch seinen missgünstigen Bruder zur Vernissage ein. Außerdem macht er seinen Vater, von dem er seit der Kindheit nichts mehr gehört hat, mit Hilfe einer Agentur in Los Angeles ausfindig. Charles Steenkamer hatte seinen Namen nach seiner Emigration in die USA in „Stone“ geändert. Johan schickt ihm eine Einladungskarte für die Vernissage. Als er es seiner Mutter mitteilt, nimmt sie sofort an, dass Charles kommen wird. Das entwickelt sich zu einer fixen Idee, und sie putzt sich für das erhoffte Wiedersehen heraus. Offenbar hat sie Charles trotz allem nicht vergessen.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Als Alma sich bei der Vernissage ständig nach Charles umsieht, meint Johan zornig:

„Mein Gott, hältst du tatsächlich die ganze Zeit Ausschau? Es geht hier um mich, begreifst du das nicht? Wir sind hier nicht im Institut für Familienzusammenführung, sondern im Museum, in dem ich ausgestellt bin. Ob er kommt oder nicht und wo der Brief gelandet ist, ist mir scheißegal. Für mich ist er tot, verschollen, abgestürzt, was auch immer. Es geht hier um mich und um niemand sonst!“ (Seite 272f)

Außer Charles sind alle Eingeladenen gekommen: Alma, Oscar und Keetje Bellefroid, Ellen mit ihren Söhnen Peter und Paul, Johans Geliebte Zina – sie ist inzwischen Galeristin –, Lisa, Klaas Bijl, der Journalist Kerstens … Stolz weist Johan Steenkamer sie auf sein Meisterstück hin: „Die Frau mit den Fischen“.

Oscar versteckt sich nach kurzer Zeit in einer Toilettenkabine. Dann läuft er zum Nationalmuseum hinüber und holt eines der vier Gemälde seines Vaters vom Dachboden. Trotz eines Unwetters zerrt er das große Bild ins Freie. Der Sturm reißt es ihm aus der Hand, mehrmals kracht es auf den Boden, und da er es nicht tragen kann, schleift er es über den Boden, zieht es durch den Dreck. Unterwegs verliert er seine Brille. Im nahen Städtischen Museum steigt er damit aufs Podium und stellt es neben das Meisterstück seines Bruders: „Alma mit Makrele“, signiert: Steenkamer 1945. Die Übereinstimmung der beiden Motive ist unverkennbar. Nun wird man Johan vorwerfen, ein Plagiator seines Vaters zu sein.

Durch den Eklat kommt es zu einem Getümmel. Mehr versehentlich als absichtlich schlägt Oscar seinem Bruder die Nase blutig. Er rennt aus dem Saal, und Alma, die ihn aufzuhalten versucht, stürzt zu Boden. Zwar kommt sie rasch wieder zu sich, hat sich aber ein Bein gebrochen und kann nicht aufhören, zu urinieren, bis die Blase leer ist. Während sich Lisa um die Verletzte kümmert, ruft Peter einen Krankenwagen, und Paul sagt das Essen im „Verlorenen Karpfen“ ab.

Oscar wird schließlich von ein paar Obdachlosen, die sich für die Nacht eingerichtet haben, freundlich aufgenommen und bekommt eine Flasche Bier spendiert. Als er merkt, dass er noch immer den schweren Schlüsselbund des Nationalmuseums in der Hosentasche hat, geht er zum Kai, um ihn wegzuwerfen, kippt jedoch selbst ins Wasser und ertrinkt.

In der Kunstausstellung im Städtischen Museum bleiben nur Johan und Ellen zurück.

Johan war nicht bewusst, dass er ein Gemälde seines Vaters nachmachte. Erst jetzt erinnert er sich, wie er es als Siebenjähriger sah. Die Eltern hatten heftig gestritten, und Alma war fortgelaufen. Dann hatte Charles die beiden Söhne gerufen und ihnen vier Gemälde gezeigt. Die sollten sie sich einprägen, denn er war dabei, die Familie zu verlassen und wollte die Bilder bei seinem Freund Leo Bramelaar deponieren. Der half ihm dann auch, sie abzutransportieren.

Nach dem Schock strebt Johan einen Neuanfang an. Er reißt seiner Ex-Frau das Kleid auf, zerrt am Büstenhalter und beißt ihr in die Brustwarzen, bis er merkt, dass sie nicht reagiert. Ellen knöpft ihr Kleid wieder zu und geht. Johan lässt sich vor den beiden Gemälden auf einen Stuhl fallen und bildet sich ein, sein Vater sei zur Tür hereingekommen.

„So, mein Junge. Du hast es also geschafft. Fabelhaft. Dein Meisterstück.“ (Seite 316)

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Die Goldfische haben ihre Jungen aufgefressen. (Seite 7)

Mit diesem Eröffnungsatz umreißt Anna Enquist das Thema ihres Familienromans „Das Meisterstück“: Aus Frustration darüber, dass ihr Ehemann sie wegen einer anderen Frau verließ, hetzt Alma ihre beiden Söhne gegeneinander auf. Auf diese Weise verhindert sie auch präventiv, dass Oscar und Johan sich gegen sie verbünden. Die schweren psychischen Schäden, die sie ihnen damit zufügt, will sie nicht wahrhaben. Am Ende geht die Familie daran zugrunde.

Diese explosive Gemengelage reichert Anna Enquist durch Konflikte in anderen Beziehungen an. Da ist vor allem das Scheitern der Ehe von Almas Sohn Johan, das Ellen zur Eigenständigkeit verhilft.

Bis kurz vor dem Ende geht es in „Das Meisterstück“ nicht um action, sondern um Charaktere und psychologische Entwicklungen, Konflikte und Traumata. Während Ellen und ihre Freundin Lisa einfühlsam porträtiert werden, wirken Alma, Johan und Oscar konstruiert.

Erzählt wird die Geschichte aus wechselnden Perspektiven.

„Das Meisterstück“ ist in drei Teile mit je drei Kapiteln gegliedert. Den Teilen hat Anna Enquist Zitate aus der Oper „Don Giovanni“ von Wolfgang Amadeus Mozart vorangestellt:

  1. Leporello: Notte e giorno faticar
  2. Elvira: Ma tradita e abbandonata provo ancor per lui pietà
  3. Don Giovanni: Più del pan che mangio, più dell‘ aria che spiro

 

Ein wenig aufdringlich ist das Fisch-Motiv: Der Roman beginnt mit Lisas Goldfischen; eine wesentliche Rolle spielen zwei Gemälde, auf denen Frauen mit Fischen dargestellt werden; die Zwillinge Peter und Paul gründen ein auf Angler spezialisiertes Reisebüro und betreiben einen Laden mit Anglerbedarf; und zum Essen gehen die Herrschaften in den „Verlorenen Karpfen“.

Anna Enquist (eigentlich Christa Widlund-Broer) wurde am 19. Juli 1945 in Amsterdam geboren. Die Psychoanalytikerin und Konzertpianistin veröffentlichte in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre drei Gedichtbände („Soldatenliederen“, „Jachtscènes“, „Een nieuw afscheid“), bevor 1994 ihr Debütroman erschien: „Das Meisterstück“. Es folgten die Romane „Die Erbschaft des Herrn de Leon“, „Die Verletzung“, „Die Eisträger“, „Letzte Reise“ und „Kontrapunkt“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

Anna Enquist: Streichquartett
Anna Enquist: Denn es will Abend werden

Eugen Kogon - Der SS-Staat
Eugen Kogon, der selbst von 1939 bis 1945 im Konzentrationslager Buchenwald eingesperrt gewesen war, veröffentlichte 1946 die erste umfassende und eingehende Darstellung über "das System der deutschen Konzentrationslager".
Der SS-Staat