Marguerite Duras : Moderato cantabile

Moderato cantabile
Originalausgabe: Moderato cantabile Les Éditions de Minuit, 1958 Moderato cantabile Übersetzung: Leonharda Gescher und W. M. Guggenheimer Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1959 ISBN 3-518-37678-0, 122 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein Mann hat seine Geliebte – auf ihren Wunsch hin – umgebracht. Wie es zu diesem unbegreiflichen Verbrechen kommen konnte, versuchen eine Fabrikantengattin und ein junger Arbeiter, der Zeuge der Tat war, zu ergründen. Dabei entwickelt sich eine Identifikation mit dem unglücklichen Liebespaar; das hat auch Auswirkung auf ihre persönliche Einstellung.
mehr erfahren

Kritik

Die knappe und sachliche Beschreibung eines Mannes und einer Frau, die auf der Suche nach dem Motiv eines Mörders und ihrer eigenen Einschätzung des Verbrechens sind, macht trotz des nahezu ohne Emotion geschilderten Verhaltens der beiden Protagonisten neugierig.
mehr erfahren

Die Ehefrau eines Fabrikdirektors, Anne Desbaresdes, bringt ihren Sohn jeden Freitag zur Klavierstunde und beobachtet ihn auch während des Unterrichts. Mademoiselle Giraud, ist mit ihrem bockigen Schüler nicht zufrieden; schon hundertmal hat sie ihm gesagt, was „moderato cantabile“ heißt, aber wenn sie ihn danach fragt, weiß er es nicht oder will es einfach nicht sagen. Wenn er zur Strafe dafür ein paar Tonleitern spielen soll, weigert er sich, und auch die Diabelli-Sonatine, die er für die Stunde geübt hat, trägt er nur lieblos vor.

Soeben erklärte die Klavierlehrerin die Stunde für beendet, als man von der Straße her Schreie hört. Madame Desbaresdes mischt sich unter die Schaulustigen, die vor dem gegenüberliegenden Café zusammengelaufen sind und erfährt, dass eine junge Frau umgebracht wurde. Sie kann den Mann noch sehen, der sich verzweifelt über seine von ihm erschossene Freundin geworfen hat. Es heißt, es sei eine Tötung auf Verlangen gewesen.

Der Vorfall hinterlässt auf die von Wohlstand und Langeweile geprägte Frau einen tiefen Eindruck. Wie magisch angezogen, sucht sie am nächsten Tag den Tatort auf. In dem Café kommt sie mit einem jungen Mann ins Gespräch, der Zeuge des Mordes war. Chauvin ist Arbeiter, wie die meisten Gäste hier. Sie will mehr über das Mordmotiv erfahren. Es wird erzählt, dass der Täter in der nahe gelegenen Fabrik arbeitete; seine Geliebte war verheiratet, heißt es, hatte drei Kinder und war Trinkerin. Chauvin vermutet:

– […] Sie müssen Liebeskummer gehabt haben […]. Aber vielleicht hat er sie nicht wegen dieses Kummers getötet, wer weiß?
– Wer weiß, das ist wahr.
Die Hand tastete mechanisch nach dem Glas. Er gab der Wirtin ein Zeichen, ihnen nochmals Wein einzuschenken. Anne Desbaresdes widersprach nicht, im Gegenteil, sah so aus, als warte sie darauf.
– Wenn man sah, was er mit ihr trieb, sagte sie leise, als kümmere es ihn künftig nicht mehr, ob sie lebendig oder tot sei, halten Sie es für möglich, dass es so weit mit einem kommt … so weit … außer aus Verzweiflung?
Der Mann zögerte, blickte ihr ins Gesicht, schlug einen schneidenden Ton an.
– Ich habe keine Ahnung sagte er.
Er reichte ihr das Glas, sie nahm es, trank. Und er führte sie in Regionen zurück, die ihm sicherlich vertrauter waren.
– Sie gehen oft in der Stadt spazieren.
Sie trank einen Schluck Wein, das Lächeln kehrte in ihr Gesicht zurück und verschleierte es von neuem, aber schneller als vorhin. Ihre Trunkenheit begann.
– Ja, jeden Tag führe ich mein Kind spazieren. (Seite 28 ff)

Auch in den nächsten Tagen geht sie erneut in das Café, wo sie mit Chauvin immer wieder den Hergang des Verbrechens erörtert und sich das Motiv des Täters zu erklären versucht.

– Blut auf dem Munde, sagte sie, und er küsste sie, küsste sie. (Seite 33)

Und Chauvin glaubt,

dass er auf ihr Herz gezielt hat, so wie sie es von ihm verlangt hatte. (Seite 33)

Der junge Arbeiter verrät Madame Desbaresdes, dass er sie in ihrem von Magnolienbäumen umgebenen Haus durch die erleuchteten Fenster beobachtete, wie sie auf dem Flur hin und her lief. Das könne schon sein, gibt sie zu, sie schlafe oft sehr schlecht und da wandere sie in den Zimmern auf und ab.

Sieben Tage hintereinander geht sie nun schon in dieses Café, immer mit ihrem Sohn, der während der Gespräche mit Chauvin auf der Straße spielt. An diesem Freitag war sie wieder in der Klavierstunde dabei. Chauvin sagt ihr, dass er von hier unten sah, wie sie sich mit den Ellbogen auf den Konzertflügel im Salon stützte, und ihm dabei eine Magnolienblüte zwischen ihren Brüsten „nackt unter dem Kleid“ auffiel.

– Wenn Sie sich vorbeugen, streift diese Blüte den Umriss Ihrer Brüste. Sie haben sie nachlässig angesteckt, zu hoch. Es ist eine riesige Blüte, Sie haben sie aufs Geratewohl ausgewählt, zu groß für Sie. Ihre Blütenblätter sind noch fest, sie ist eben erst in der letzten Nacht voll aufgeblüht. (Seite 84)

An diesem Nachmittag trinkt Anne Desbaresdes noch mehr als sonst und vergisst über ihrer intimen Unterhaltung mit Chauvin die Zeit. Ausgerechnet heute, wo sie von ihrem Ehemann erwartet wird, weil Gäste eingeladen sind. Es ist schon sieben Uhr, als Chauvin sie wegschickt und sie aufgelöst mit ihrem Kind nach Hause läuft.

Den Gästen wird bereits der Fisch serviert, als Anne mit wirrem Haar und verrutschtem Blusenausschnitt – „zwischen den Brüsten welkt eine Blüte“ – sich an den Tisch setzt. Sie ist betrunken; ihr Mann muss sich für ihre Verspätung entschuldigen. Kaum nimmt sie wahr, was um sie herum geschieht.

Eine von ihnen verstößt heute abend gegen den allgemeinen guten Appetit. Sie kommt vom anderen Ende der Stadt […], von dem entgegengesetzten Ende dieses Boulevard de la Mer, dieses Umkreises, der ihr vor zehn Jahren zugebilligt wurde, von dort, wo ein Mann ihr Wein zu trinken gab über alle Vernunft hinaus. Gestärkt von diesem Wein, enthoben aller Regel, würde Essen sie nur elend machen. Jenseits der weißen Vorhänge die Nacht, und in der Nacht betrachtet immer noch, denn er hat Zeit, ein einsamer Mann einmal das Meer, einmal den Park. Dann das Meer, den Park, seine Hände. Er isst nicht. Er könnte nicht, auch er nicht, seinen Körper nähren, der von anderem Hunger gepeinigt wird. Der Weihrauch der Magnolien kommt immer noch über ihn, wie es dem Wind beliebt, und überfällt und quält ihn, wie es dem Wind beliebt, und überfällt und quält ihn, als wäre es der einer einzigen Blüte. (Seite 101 ff)

Anne Desbaresdes trinkt weiter, und der Mann ist um den Park herumgegangen, läuft zum Strand hinunter, legt sich in den Sand und schaut zu den erleuchteten Fenstern des Hauses hinauf. Die Gäste sind mit dem Hauptgang beschäftigt, aber Anne will immer noch nichts essen. Hin und wieder nestelt sie an ihrer angesteckten Magnolie herum und zerknüllt sie schließlich. Nachdem sie wieder ein ganzes Glas Wein getrunken hat, wird ihr übel und sie zieht sich in den ersten Stock zurück. Der Mann am Strand kehrt um in die Stadt – „weitab von diesem Park“.

Am übernächsten Tag findet sich Anne wieder in dem Café ein, ohne ihren Sohn. Von nun an werde sie ihr Kind von jemand anderem zur Klavierstunde bringen lassen, klärt sie Chauvin auf. Nachdem sie ihr Glas Wein getrunken hat, sagt sie ihm, dass sie das vorige Mal den Wein erbrochen habe. „Es sind erst ein paar Tage, dass ich trinke …“ Zögernd legt Chauvin seine kalte Hand auf ihre. Sie bittet ihn abermals, aus seiner Sicht darzustellen, wie das Motiv des Täters zu erklären sei.

– Ich möchte gern ein wenig verstehen, warum es so wundervoll war, ihr Verlangen, es möge eines Tages so weit mit ihm kommen.
[…] – Man braucht gar nicht erst versuchen zu verstehen. Man kann nicht in solchem Maße verstehen.
– Es gibt Dinge, wie diese, die man auf sich beruhen lassen muss?
– Ich glaube.
Anne Desbaresdes‘ Gesicht wirkte wie ausgelöscht, beinahe einfältig. Ihre Lippen waren grau vor lauter Blässe, und sie zitterten wie kurz vor dem Weinen.
– Sie versucht nichts, um ihn daran zu hindern, sagte sie ganz leise.
– Nein. Wir wollen noch ein wenig Wein trinken. […] (Seite 118)

Sie ist durcheinander und verstört. Bevor sich das Café mit den Arbeitern nach Fabrikschluss wieder füllen wird, geht sie auf Chauvin zu.

Da tat sie, was er nicht hatte tun können. Sie ging so nahe an ihn heran, dass ihre Lippen sich finden konnten. Ihre Lippen blieben aufeinander, aufeinandergelegt, auf dass es getan werde, demselben Toten-Rituell folgend wie einen Augenblick vorher die Hände, kalt und bebend. Es ward getan. (Seite 120)

Anne Desbaresdes schlüpft in ihre Jacke und schickt sich an, das Café zu verlassen.

– Ich wünschte, Sie wären tot, sagte Chauvin.
– Es ist so weit, sagte Anne Desbaresdes.(Seite 122)

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Ein Arbeiter tötet seine junge Geliebte in einem Café, das sich gegenüber desjenigen Hauses befindet, in dem Anne Desbaresdes ihren kleinen Sohn jede Woche zum Klavierunterricht begleitet. Unmittelbar nach der Tat begibt sich die Fabrikantengattin an den Tatort. Es heißt, es sei eine Tötung auf Verlangen gewesen. Wie magisch angezogen, sucht sie die nächsten Tage den Ort des Geschehens auf. Dort kommt sie mit einem jungen Arbeiter ins Gespräch; Chauvin war Zeuge des Verbrechens. Sie trinken Wein zusammen und versuchen sich vorzustellen, welche Motive zu dem Mord aus Leidenschaft – so beurteilen sie das Verbrechen – geführt haben mögen. Zwischen der von Wohlstand und Gleichförmigkeit des Alltags geprägten Frau und dem aus einem anderen Milieu stammenden Mann, entwickelt sich während einer Woche eine distanzierte Vertrautheit, das sich zum Schluss mit einem Schuss Erotik auflädt. Die Identifikation mit dem verzweifelten Liebespaar, dessen Schicksal sie symbolisch nachzuvollziehen versuchen, hat auf das Verhältnis zwischen Anne und Chauvin eine unvorhersehbare Wirkung.

Mit verstörender Sachlichkeit berichtet Marguerite Duras von dem Versuch, hinter der unbegreiflichen Tat ein Motiv zu finden. Die Annäherung zwischen den zwei Personen, die sich damit befassen, einen „Sinn“ des Verbrechens herauszufinden, schildert die Autorin distanziert und beinahe emotionslos. Stimmungen entstehen fast nur durch Naturbeschreibungen, wie zum Beispiel Sonnenuntergänge; diese sind zum Teil sehr poetisch ausgemalt. Die dramatische innere Entwicklung der Protagonisten, die wieder in ihr gewohntes Umfeld zurückkehren, sind nur ansatzweise nachzuvollziehen.

„Moderato cantabile“ heißt – so will es die Klavierlehrerin übersetzt wissen – „gemäßigt und singend“. Was die Erzählweise Marguerite Duras‘ betrifft, würde ich diese als „unterkühlt und rhapsodisch“ bezeichnen.

Der Roman „Moderato cantabile“ erschien 1958. Er unterscheidet sich von ihren früheren Werken, in denen der Dialog im Mittelpunkt stand, insofern als damit ein Wendepunkt zum nouveau roman deutlich wird.

Peter Brook verfilmte den Roman „Moderato cantabile“:

Originaltitel: Moderato cantabile – Regie: Peter Brook – Drehbuch: Gérard Jarlot, nach dem Roman „Moderato cantabile“ von Marguerite Duras – Kamera: Armand Thirard – Schnitt: Albert Jurgenson – Musik: Antonio Diabelli – Darsteller: Jeanne Moreau, Jean-Paul Belmondo, Pascale de Boysson, Jean Deschamps, Didier Haudepin, Colette Régis, Valeric Dobuzinsky – 1960; 90 Minuten

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2006
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Marguerite Duras (Kurzbiografie)

Marguerite Duras: Hiroshima mon amour (Drehbuch 1960)
Marguerite Duras: Der Liebhaber

Adriana Altaras - Doitscha
In ihrem Roman "Doitscha" entwickelt Adriana Altaras keine Handlung im engeren Sinn, sondern reiht Episoden locker aneinander. Den wechselnden Ich-Erzählern gemeinsam ist der lockere Plauderton.
Doitscha