Hannah Dübgen : Strom

Strom
Strom Originalausgabe: Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2013 ISBN: 978-3-423-24972-0, 267 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Hannah Dübgen erzählt in "Strom" von einem in Tokio lebenden US-amerikanischen Mitarbeiter eines Investmentunternehmens, einer in Paris wohnenden japanischen Pianistin, einem brasilianischen Zoologen in Jerusalem und einer Berlinerin, die mit ihrer Freundin im Gazastreifen einen Dokumentarfilm drehte. Bei den Romanfiguren handelt es sich um Gläubige und Atheisten, Juden und Muslime, Japaner und Amerikaner.
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Kritik

Der Roman "Strom" setzt sich aus vier lose verknüpften Geschichten zusammen. Hannah Dübgen erzählt nicht eine Geschichte nach der anderen, sondern entwickelt alle Handlungsstränge im ständigen Wechsel parallel.
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Jason

Jason ist bei der US-amerikanischen Investmentgesellschaft Greenberg, Hanson & Lloyd beschäftigt. Vor drei Wochen wurde er von London nach Tokio versetzt. Nun fliegt er nach San Francisco, um der Unterzeichnung eines maßgeblich von ihm ausgehandelten Vertrags beizuwohnen. GHL kauft den von Tim Palm geführten Autozulieferer Advanced Systems and Controls (ACS). An der Hotelbar trifft Jason sich mit seinem Chef Bill Hanson. Sie reden über den japanischen Konzern Kazedo Electric, den GHL als nächstes übernehmen möchte. Hanson und sein Partner Jack Greenberg sind der Meinung, dass Okada, der seit zwei Jahren die japanische Vertretung leitet, nicht genügend unternimmt, um das Vorhaben voranzubringen. Deshalb erhält Jason inoffiziell den Auftrag, sich der Sache anzunehmen.

In London ließ Jason eine zwar kinderlose, aber mit einem anderen Mann verheiratete Geliebte zurück. Leylas Eltern stammen aus dem Iran. Ungeduldig drängt Jason sie, sich von ihrem Mann zu trennen und ihm nach Japan zu folgen. Sie zögert mit einer Entscheidung, und Jason verliert die Geduld.

„Hast du“, fragte er, „dich entschieden?“
Es raschelte in der Leitung. Leyla änderte ihre Haltung, sie bereitete sich vor – auf was?
„Noch nicht“, erwiderte sie dumpf, „gib mir noch Zeit.“
„Zeit wofür?“ Seine Stimme klang erstaunlich barsch. […]
„Zeit wofür!“ Jason hörte die Aggression in seiner Stimme, er hasste es, wenn die Sachen sich im Kreis drehten. Was hoffte Leyla, mit der Zeit zu finden, sie hatte Zeit genug gehabt.
„Die Situation ist klar“, erklärte er, „die Türe offen, du musst nur durchgehen.“
„So einfach ist das nicht.“
„Doch“, sagte Jason, „genauso einfach ist das. Leyla, die Klarheit, nach der du dich sehnst, kommt nicht durchs Warten, durchs Dasitzen und Hin-und-her-gerissen-Sein, sie kommt nur durch eine Entscheidung!“
„Ich wünschte, es wäre so.“ […]
„Jason?“ fragte Leyla, ihre Stimme klang weit entfernt.
„Leyla?“
„Warum?“
„Warum was?“
„Warum kannst du nicht warten?“
„Warum kannst du dich nicht entscheiden?“

In Tokio verliebt Jason sich in Mai Sato, die Nichte des Justiziars der japanischen Dependence von GHL, die als Assistentin im selben Unternehmen beschäftigt ist. Die beiden verabreden sich, und Jason lädt Mai Sato in ein Restaurant ein, das über eine Lizenz für die Zubereitung von Kugelfisch verfügt, aber die junge Japanerin klärt ihn darüber auf, dass man die Delikatesse nicht zu dieser Jahreszeit isst. Überhaupt hält sie Kugelfisch für überbewertet und führt dies auf die Giftigkeit zurück.

Ihr Vater Torus unterschlug in dem von ihm in Tokio geleiteten Unternehmen einen größeren Geldbetrag. Als dies vor fünf Jahren auffiel und er verhaftet werden sollte, setzte er sich gerade noch rechtzeitig nach Malaysia ab. Von dort aus floh er vermutlich weiter nach Australien, aber Mai hat nie wieder etwas von ihm gehört. Er ließ die Familie mit der Schande zurück und blieb verschwunden. Seine Schwester Fumiko drängte ihren Ehemann Hiroshi Yukawa, den Justiziar der GHL-Niederlassung in Tokio, der Nichte einen Job zu verschaffen. Mai wurde von ihrem Großvater in Kalligraphie unterrichtet und bekam ein Stipendium für ein Studium in den USA angeboten, aber sie blieb in Tokio und betrachtet ihre Tätigkeit als Assistentin als Buße für das Verbrechen ihres Vaters.

Okada versucht Jason zu erklären, dass Kazedo Electric zwar in finanziellen Schwierigkeiten sei und ohne Kooperation mit einem starken Partner kaum noch eine Zukunft habe, dass es aber bei einem japanischen Traditionsunternehmen wie diesem nicht nur auf ökonomische Aspekte ankomme. Jasons Vorschlag, einzeln an die Mitglieder des Aufsichtsrates heranzutreten, hält er für kontraproduktiv.

Nach dem Gespräch mit Okada umgeht Jason ihn und nimmt Kontakt mit der Kazedo-Konzernleitung auf. Zu seiner Überraschung erhält er einen Termin beim Präsidenten Dai Watanabe persönlich. Der Japaner empfängt ihn mit ausgesuchter Höflichkeit, lehnt jedoch unmissverständlich das Übernahmeangebot der amerikanischen Investmentfirma ab. Zwei japanischen Großbanken hätten sich bereit erklärt, Kazedo zu stützen, sagt er, und der Elektronikriese Matsushita – bisher Kazedos schärfster Konkurrent – werde sich mit dem angeschlagenen Unternehmen zusammentun.

Jason ruft Bill Hanson in San Francisco an, um ihn über seine Unterredung mit Dai Watanabe zu unterrichten. Zufällig sitzt auch Jack Greenberg bei seinem Partner im Büro. Die beiden finden sich mit dem geplatzten Deal rasch ab, denn sie wittern eine neue Chance: Das von Amos Sarrot gegründete Unternehmen Better Place plant, in Israel ein landesweites Netz von Auflade- und Wechselstationen für Akkus von Elektroautos aufzubauen und benötigt dafür Investoren. Jason soll nach Tel Aviv fliegen und die Möglichkeiten ausloten, mit Better Place ins Geschäft zu kommen.

Als Mai Sato hört, dass ihr neuer Freund nach Israel zu reisen beabsichtigt, beschafft sie ihm eine Karte für ein Konzert des Jerusalem Symphony Orchestra, bei dem ihre Cousine Makiko Yukawa als Solistin auftreten wird.

Jason fällt eine Konzertbesucherin in Cargohose und übergroßem Oberhemd auf. Zufällig hat sie den Platz neben ihm, und als er auf ihrem iPhone das Foto einer jungen Frau entdeckt, die wie Leyla aussieht, spricht er sie an.

Makiko

Die in Paris lebende japanische Pianistin Makiko Yukawa ist die Tochter von Hiroshi und Fumiko Yukawa.

Zur Musikbiennale reist sie nach Venedig und wird dort von Gianni Filanzoni, dem Leiter der Veranstaltung, persönlich begrüßt. Auch ihr Agent Gerald ist da. Er ist ihr Geliebter, aber sie schlafen nur bei Konzertreisen miteinander, denn Gerald ist in London verheiratet.

Obwohl Makiko die Pille nimmt, erfährt sie einige Zeit später von dem Gynäkologen Dr. Alain Ballon, dass sie in der fünften Woche schwanger ist. Das versetzt sie in Panik. Wie soll sie die geplanten Konzerte durchstehen, wenn sie hochschwanger ist? Als alleinerziehende Mutter müsste sie ihre Karriere aufgeben. Makiko entschließt sich deshalb zu einer Abtreibung.

Ihr Konzert in Jerusalem findet an einem Tag statt, an dem auch der US-Präsident auf Staatsbesuch in der Stadt ist. Von ihrem Garderobenfenster aus sieht Makiko einen Demonstrationszug unter dem Motto „Peace Now“.

Luiz

Der aus Brasilien stammende Zoologe Luiz lebt mit seiner Ehefrau Rachel und den beiden Kindern Joel und Zeruya in Jerusalem. Rachels Mutter Esther ist die Tochter wohlhabender französischer Juden, die im Sommer 1940 nach Israel auswanderten. Bei ihrem Vater Aaron handelt es sich um einen emeritierten Dekan der Universität von Tel Aviv.

Als Luiz zu einer Konferenz nach New York eingeladen wird, wundert er sich darüber, dass seine in Tel Aviv lebende Geliebte Joana zögert, ihn zu begleiten, während ihn seine Ehefrau mit der Ankündigung überrascht, sie werde mitkommen. Ahnt Rachel etwas von seiner Affäre?

Rachel engagiert sich politisch, gehört zu den Aktivistinnen der Bewegung „Peace Now“ und zu den Organisatorinnen einer Demonstration anlässlich des Staatsbesuches des US-Präsidenten. Sie weiß, dass Luiz das Leben in Israel für unerträglich hält und das Land verlassen möchte. Obwohl sie tief in Israel verwurzelt ist und es ihr entsprechend schwerfällt, hat sie beschlossen, an seiner Seite zu bleiben.

Als Luiz begreift, aus welchem Grund Rachel mit ihm nach New York fliegen möchte, ist er erleichtert, und die Liebe zu seiner Frau flammt neu auf.

An dem Tag, an dem der US-Präsident nach Jerusalem kommt, besuchen Luiz und Rachel ein Konzert der japanischen Pianistin Makiko Yukawa. Die Kinder haben sie Rachels Eltern anvertraut.

Ada

Während eines Besuchs bei Joana in Tel Aviv stellte sie Luiz ihren Nachbarn Salim vor, einen Palästinenser, der für eine internationale Hilfsorganisation tätig ist, die sich um die Versorgung der Bevölkerung im Gazastreifen kümmert.

Salim unterstützte die beiden Berlinerinnen Ada und Judith, als diese einen Dokumentarfilm über das Leben im Gazastreifen drehten. Kurz danach wurde bei Judith ein Tumor diagnostiziert. Die drei Monate, die ihr noch blieben, verwendete sie, um mit Ada den Film zu schneiden. Dann musste sie ins Krankenhaus, und dort stirbt sie schließlich in Adas Beisein.

Mehrmals schnappte Judith rasch hintereinander nach Luft, dann atmete sie weiter wie zuvor, so weit man das noch Atmen nennen konnte, ihr Keuchen wurde tierischer, ihr Brustkorb hob und senkte sich, panisch, öffnete sich weit und blieb plötzlich, auf der Spitze eines besonders jähen Atemzuges, stehen – einen Augenblick lang war es vollkomen still, dann folgte ein langes, langsames Ausatmen, in einem Ton, der anders klang als alles Vorangegangene, das war der Atemzug, nachdem sich Ada die ganze Zeit gesehnt hatte, ruhig, mühelos, entspannt.

Weil es Judiths Wunsch war, dass ihre Asche am Gazastreifen ins Meer verstreut wird, fliegt Ada damit nach Tel Aviv und wird im Flughafen von Salim abgeholt. Sie fahren zu Bassam und Jafna, die in Gaza ein Café betreiben, in dem Ada und Judith viele der Interviews drehten. Dabei wurden sie Freunde. Die 15-jährige Maha, eines der fünf Kinder des Paares, hat inzwischen mit anderen palästinensischen Mädchen zusammen bei Facebook eine Fanseite eingerichtet, auf der sie für den Frieden im Nahen Osten werben.

Bassam, Jafna, Maha und Salim führen die deutsche Filmemacherin zu einem Olivenbaum. Dort entdeckt Ada den Namen Judith und das Geburtsjahr 1973 auf einer Steinplatte.

„Hier gedenken wir der Toten“, sagte Maha ruhig und zeigte auf das Feld, „einige sind hier begraben, bei anderen war der Körper –“, sie stockte, „nicht mehr zu finden.“
„Es war Mahas Idee, Judiths Namen hinzufügen“, erzählte Bassam und trat näher, „wir hoffen, das ist recht.“

Statt im Meer verstreut Ada mit den anderen zusammen die Asche an dieser Gedenkstätte.

Salim bringt Ada zurück nach Tel Aviv, und weil er zu tun hat, stellt er sie seiner Nachbarin Joana vor, der er einen Zweitschlüssel für seine Wohnung anvertraut hat. Die Brasilianerin verkauft in einem Laden selbst entworfene Kleider und Accessoires. Sie habe eine Affäre mit einem Landsmann, erzählt sie der Besucherin, aber die werde wohl bald zu Ende gehen.

Mit einem Motorrad fährt Ada nach Jersualem. Als sie dort ein Plakat mit der Ankündigung eines Konzerts des Jerusalem Symphony Orchestra sieht, kauft sie sich eine Karte, obwohl sie nicht passend gekleidet ist. Sie sitzt neben einem Amerikaner, der sich tief zu ihr herüber beugt und auf den Bildschirm ihres iPhones starrt, auf dem sie Mahas Facebook-Seite geöffnet hat.

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In ihrem Debütroman „Strom“ erzählt Hannah Dübgen (* 1977) von einem in Tokio lebenden US-amerikanischen Mitarbeiter eines Investmentunternehmens, einer in Paris wohnenden japanischen Pianistin, einem brasilianischen Zoologen in Jerusalem und einer Berlinerin, die mit ihrer Freundin im Gazastreifen einen Dokumentarfilm drehte. Bei den Romanfiguren in „Strom“ handelt es sich um Gläubige und Atheisten, Juden und Muslime, Japaner und Amerikaner. Die Handlung dreht sich um kulturelle Unterschiede, die globalisierte Wirtschaft, den Nahost-Konflikt, um Ehe, Liebesaffären und Tod.

„Strom“ setzt sich aus vier voneinander unabhängigen, über Nebenfiguren und zufällige Begegnungen lose verknüpften Geschichten zusammen. Am Ende befinden sich alle vier Hauptfiguren im Jerusalem Theatre, wo die japanische Pianistin ein Konzert gibt. Hannah Dübgen erzählt nicht eine Geschichte nach der anderen, sondern entwickelt alle Handlungsstränge im ständigen Wechsel parallel. Die Charaktere interessieren sie dabei nicht besonders; sie bleiben blass.

Der Titel des Romans lautet „Strom“. Damit ist der elektrische Strom gemeint, der die Abhängigkeit vom Erdöl verringern soll und für Jason bzw. das von ihm vertretene Unternehmen eine entscheidende Rolle spielt. Wenn Hannah Dübgen die Bewegung von Passanten in Tokio oder einen Demonstrationszug in Jerusalem beschreibt, lässt sich das allerdings auch mit einer anderen Bedeutung des Wortes Strom assoziieren.

„Strom“ ist ein klug gebauter und stilistisch bis auf wenige Ausnahmen enorm disziplinierter Roman, der die Brüchigkeit und Unzuverlässigkeit beruflicher Planungen wie privater Bindungen veranschaulicht. Dübgen spielt diverse Konzepte durch, vom unerschütterlichen Glauben der Japaner an die Ehre der Familie über das starre westliche Festhalten am Konzept der Monogamie bis hin zum Versuchsfeld der offenen Liebesbeziehung – um sie allesamt, mehr oder weniger drastisch, im Wirbel des weltumspannenden und welteinsaugenden Durcheinanders scheitern zu lassen.
(Christoph Schröder, Süddeutsche Zeitung, 8. August 2013)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Deutscher Taschenbuch Verlag

Hannah Dübgen: Über Land

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