Bora Cosic : Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution

Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution
Originalausgabe: Bora Ćosić: Uloga moje porodice u svetskoj revoluciji Nolit, Belgrad 1980 Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution Übersetzung: Mirjana und Klaus Wittmann Rowohlt Verlag, Berlin 1994 Suhrkamp Verlag,Frankfurt/M 2002 ISBN 978-3-518-39922-4, 117 Seiten ISBN: 3-570-19524-4, 139 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Beim Ich-Erzähler handelt es sich um ein Kind, um den Sohn einer heruntergekommenen Familie in Belgrad, der von seinen Erlebnissen während des Zweiten Weltkrieges und der Machtübernahme der Kommunisten berichtet. Weil er die politischen Zusammenhänge nicht begreift, spiegeln sie sich nur in konkreten, von ihm beobachteten Ereignissen, und die erwähnt er in einem Atemzug mit Belanglosigkeiten aus dem Alltagsleben.
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Kritik

In "Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution" von Bora Ćosić gibt es keine Handlung; der sarkastisch-komische Roman besteht aus einer Collage von Momentaufnahmen, und die Sprache entspricht der eines Kindes.

In „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“ von Bora Ćosić gibt es keine Handlung; der sarkastisch-komische Roman besteht aus einer Collage von Momentaufnahmen. Beim Ich-Erzähler handelt es sich um ein Kind, um den Sohn einer heruntergekommenen Familie in Belgrad, dessen Namen wir nicht erfahren. Der Junge erzählt von seinen Erlebnissen während des Zweiten Weltkrieges und der Machtübernahme der Kommunisten. Weil er die politischen Zusammenhänge nicht begreift, spiegeln sie sich nur in konkreten, von ihm beobachteten Ereignissen, und die erwähnt er in einem Atemzug mit Belanglosigkeiten aus dem Alltagsleben. Das eigentliche Geschehen findet also außerhalb des Horizonts des Ich-Erzählers statt.

Ich hatte Eltern, die am Anfang „Mietzekatze!“ zueinander sagten und später: „Blödes Rindvieh!“ (Seite127)

Der Vater war Hausierer, fing dann in einer Eisenwarenhandlung an, und zum Leidwesen seiner defätistischen Ehefrau handelt es sich bei ihm um einen arbeitslosen Alkoholiker. Zum Haushalt gehören auch noch der Großvater, ein Onkel und zwei Tanten. Der Großvater, der sich durch nichts erschüttern lässt, beurteilt alles nach seinem praktischen Nutzen; der Onkel ist ein unverbesserlicher Frauenheld, und die Tanten schwärmen von amerikanischen Filmschauspielern.

Ich hatte einen Onkel, Tanten, einen Opa, all das hatten die anderen auch. Von den anderen sagte man: „Das ist eine feine Familie!“, von uns nur: „Dieses Pack!“ Wir lebten am Ausgang des großen Krieges, am Ende der Okkupation, am Beginn neuer Tage, wir benutzten Gegenstände wie Betten, Löffel, Duftwasser, alles war wie bei den anderen auch. Ich weiß nicht, woher die Unterschiede kamen. Von den anderen sagte man: „Sie haben alles!“ und von uns: „Zerlumpte Penner, ohne einen Groschen in der Tasche!“ Jemand hatte auf eine Liste der Hausbewohner hinter Onkels Namen „Schürzenjäger“, hinter Papas Namen „Säufer“, hinter meinen „Blödian“ geschrieben. Hinter Mamas Namen stand nichts, Mama beschwerte sich: „Ich Arme!“ Die Tanten erkundigten sich: „Warum hassen uns alle!“ Opa sagte: „Weil wir uns gut verstehen!“ Der Onkel protestierte: „Einen Teufel tun wir!“ (Seite100f)

Während des Krieges müssen noch fünf ausgebombte Verwandte von der skurrilen Familie aufgenommen werden. Sie schlafen auf Matratzen am Boden, und man muss über sie hinwegsteigen, um ein Zimmer zu durchqueren. Als die Kommunisten an die Macht kommen, bleibt der Familie des Erzählers nur noch ein einziges Zimmer, weil der Partisanen-Hauptmann Jovo Sikira bei ihnen einquartiert wird.

Schließlich verlässt der Vater die Familie und zieht zu seiner Geliebten, Frau Darosova.

Die Sprache hat Bora Ćosić (nicht ganz konsequent) der eines Kindes angepasst. Entsprechend einfach sind die Sätze aufgebaut und aneinandergereiht. Das klingt dann so:

Voja Blosa sagte: „Komm, wir schauen uns die Därme des Hausmeisters auf den Telefondrähten an!“ Es hingen noch andere Teile des menschlichen Körpers an den Drähten, aber wir konnten sie nicht erkennen. (Seite 68)

Auch Papa fing an, viele kostspielige Dinge zu beschaffen, Mama fragte ihn: „Könntest du nicht dieses berühmte Medikament Acetylcholin für eine Freundin von mir besorgen, die mit den Nerven am Ende ist!“ Dann sagte sie: „Besorge uns unbedingt zwei Kilo Schweineschmalz, wo immer du welches auftreiben kannst!“ Schließlich sagte sie: „Bring die Dinger für Frau Darosava mit, sie möchte sie ihrem Freund zum Geburtstag schenken!“ Papa fragte: „Aber wo soll ich jetzt Pariser herkriegen!“ Ich sägte gerade mit der Laubsäge aus einer Sperrholzplatte einen Indianer aus, Mama flüsterte Papa ins Ohr: „Doch nicht vor dem Kind!“ (Seite 53)

Sie nahmen […] Leute fest, immer wegen irgendwelcher Abzeichen, Anstecknadeln oder ähnlichem. Der Onkel teilte uns mit: „Sie haben auch die Baruhs abgeführt, sogar die Kinder!“ Opa erklärte: „Kein Wunder, wenn man so heißt!“ (Seite 53)

Aus der Nachbarschaft kam Olgica, die Tochter des Polizeischreibers, und sagte: „Auf Anordnung meines Vaters sollen Sie uns folgende Sachen leihen!“ Olgica hatte eine Liste, auf der Liste standen der Fleischwolf, der Waschtrog, die unzerbrechlichen Mokkatassen. Alle hassten wir die Listen des Polizeischreibers mit den unterschiedlichsten Haushaltsgegenständen, und genauso die Deutschen, die Urheber dieser Ausleihaktionen. (Seite 56)

Dann kam ein Typ und bot uns ein Mittel gegen Haarausfall an. Der Onkel sagte: „Haare habe ich mehr als genug, aber Geld nicht!“ Ein sehr feiner Herr klopfte an unsere Tür und schlug vor: „Sie geben mir jetzt tausend Dinar, und ich besorge Ihnen den Speck!“ Opa fragte: „Warum gerade wir!“ Der Herr zeigte einen Zettel und sagte: „Man hat mir aufgeschrieben, Sie aufzusuchen!“ Und dann sagte er noch: „Meine Adresse ist die und die!“ Mama war einverstanden: „Also gut!“, gab ihm tausend Dinar, suchte später jene Adresse auf, dort sagte man ihr: „Liebe gnädige Frau, Sie sind nicht die Erste, die das Haus sucht, das schon bei den ersten Luftangriffen zerstört wurde!“ (Seite 64)

Die Genossen der Einundzwanzigsten Serbischen Brigade fragten: „Gibt es hier in der Gegend faschistische MG-Schützen!“ Der Onkel sagte: „Bei uns gibt es nur welche, die künstliche Mäuse zum Aufziehen verkaufen!“ Russische Panzersoldaten fragten: „Gibt es Minen, ja oder njet!“ Mama antwortete: „Meine einzige Mine ist mein unglückseliger Mann und der Alkohol in ihm!“ (Seite 69)

[Oberstleutnant] Vaculic fragte: „Soll ich dieses Kristallglas aus der Zeit der bürgerlichen Herrschaft zerschlagen!“ Mama schob ihm ein anderes Glas unter, ein gewöhnliches. Papa sagte: „Schlage nur kaputt, was du willst!“ […] Der Onkel stellte fest: „Der Kommunismus ist lustig!“ Die Offiziere sangen Lieder, tätschelten meine Wangen, tranken Schnaps und kotzten später über das Balkongeländer. Im Parterre war an dem Tag ein Beamter an Angina gestorben, das passte schlecht zusammen. Jemand schrie von unten: „Ist euch denn gar nichts heilig!“ Wir antworteten: „Nein!“ (Seite 73)

Oberstleutnant Vaculic sagte nach alldem: „Wir sind imstande, auch die Natur in unserem Sinne umzukrempeln, die Blumen, die Flüsse und die Seen, auch die Meere, das ist allerdings viel schwieriger!“
Dann teilte Jovo Sikira uns folgendes mit: „Was den Wohlstand angeht, alles ist schon im Voraus bestimmt, außer dass es viel langsamer geht, als wir es uns gedacht haben!“ […] Genosse Sikira entschuldigte sich: „Wir können nichts dafür!“ Dann sagte er: „Wir haben jetzt schon für jede Familie einen viertel Quadratmeter Badezimmerfliesen sichergestellt!“ (Seite 77)

Der Onkel fragte ihn [Vaculic]: „Ich habe gehört, wir werden unser Leben verändern, sogar um den Preis, dass es manche von uns das Leben kosten wird!“ Genosse Abas verbesserte ihn: „Nein, nur dass wir alles gemeinsam haben werden, wie die Gedanken, die Gefühle und andere innere Dinge!“ Die Tanten flüsterten: „Genau das haben wir befürchtet!“ Opa verkündete: „Lieber reich und gesund als arm und krank, aber das ist nicht immer der Fall!“ Jovo Sikira tröstete ihn: „Später werden in unserem Leben Milch und Honig fließen, wie ich es auf einem Scheißhaus gelesen habe!“ Mama stellte fest: „Alles ist in der Natur des Menschen begründet, und die ist meistens schlecht!“ Mama fing an zu lachen über das, was sie gesagt hatte. Genosse Abas belehrte uns: „Wir müssen so weit kommen, dass wir auch dann lachen, wenn es gar nichts zu lachen gibt!“ (Seite 80)

Wir zogen los, um im Rahmen einer Volksdemonstration die Schaufenster der Amerikanischen Bibliothek einzuwerfen, aus den Schaufenstern fielen Bücher und Fotos von Amerikanern in Uniform. Ich zog los, um „Blutsauger des Volkes!“ zu rufen, das war bei einer Versammlung. (Seite 96)

Man bat uns zu horchen, was die Feinde in der Nachbarschaft trieben, doch das lehnten wir aus der uns angeborenen Dummheit ab und erlaubten somit, dass diese staatsfeindlichen Tätigkeiten bis an die Grenze des Erträglichen fortgesetzt wurden. Wir sahen viele schreckliche Szenen beim Rausschmiss des Professors aus seiner Wohnung mit an, in die dann einer von unseren Genossen einzog, aber das Schlimmste war, dass wir darüber später redeten. Genosse Jovo Sikira hat uns so schön erklärt, dass wir nicht gesehen hatten, was wir gesehen hatten, doch wir sträubten uns dagegen, und das führte zu unerwünschten Konsequenzen. Wir konnten nie begreifen, dass manches sich nicht ereignet hatte, weil es nicht vorgesehen war, und schuld daran war allein unsere alte Angewohnheit, alles zu sehen. Genosse Jovo Sikira brachte uns bei, dass nur das geschieht, was geschehen soll, nichts anderes. (Seite 121)

Bora Ćosić veröffentlichte den Roman „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“ 1969 erst einmal im Selbstverlag. Im Jahr darauf erschien das Buch bei Prosveta in Belgrad. Die deutsche Übersetzung von Mirjana und Klaus Wittmann basiert auf einer veränderten, 1980 vom Verlag Nolit in Belgrad publizierten Fassung.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Rowohlt Verlag Berlin

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