Julio Cortázar : Der Verfolger

Der Verfolger
Erstveröffentlichungin der Anthologie "Die geheimen Waffen" Editorial Sudamericana, Buenos Aires 1958 Der Verfolger Übersetzung: Rudolf Wittkopf Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1978 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 21, München 2004
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"Johnny ist für den Jazz der gewesen, der eine neue Seite aufschlägt." – Der französische Jazz-Kritiker Bruno V., der eine Biografie über den schwarzen Saxophonisten Johnny Carter geschrieben hat, beobachtet fasziniert und verzweifelt, wie sich der mit ihm befreundete geniale Jazzer selbst zerstört.
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Kritik

In einprägsamen Szenen und Dialogen porträtiert Julio Cortázar einen genialen und zugleich selbstzerstörerischen Jazz-Musiker, bei dem man an Charlie Parker denken muss. "Der Verfolger" ist eine leidenschaftliche, mitreißende, virtuose Erzählung.
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Bruno V. besucht seinen Freund, den schwarzen Saxophonisten Johnny Carter, und dessen Geliebte Dédée in einem schäbigen Hotel in der Rue Lagrange in Paris. In ihrem Zimmer gibt es kein fließendes Wasser. Johnny hat sein Saxophon in der Metro liegen lassen und kann es sich nicht leisten, ein neues zu kaufen, soll aber aufgrund eines Vertrags – für dessen Erfüllung es endlich wieder Geld geben würde – in zwei Tagen auftreten.

Niemand wagt es mehr, Johnny ein Instrument zu leihen, denn entweder verliert er es oder er macht es sofort zuschanden. Das Saxo von Louis Rolling hat er in Bordeaux verloren, und das, was Dédée gekauft hatte, als man ihn für eine England-Tournee verpflichtete, hat er in Stücke geschlagen, ist darauf herumgetrampelt und hat es in die Ecke gekickt. Niemand kann sagen, wie viele Instrumente er schon verloren, versetzt oder kaputtgemacht hat. (Seite 10)

Man kann Johnny […] einfach nicht böse sein; das wäre wie dem Wind böse zu sein, weil er uns zerzaust. (Seite 38)

Während Dédée Wasser für drei Tassen Nescafé zum Kochen bringt, verrät Johnny – der seine Ehefrau Lan und die Kinder in den USA sitzen ließ – seinem Freund, dass er mit Dédée Schluss machen und nach New York zurückkehren will.

Bruno – Jazz-Kritiker, Biograf und Freund Johnnys – befürchtet, dass der Musiker es geschafft hat, auch in Paris wieder an Marihuana zu kommen. Nach Zusammenbrüchen in Baltimore und New York hatte Johnny Monate in psychiatrischen Kliniken verbringen müssen. Dédée flüstert Bruno zu, dass es seit der Rückkehr von einer Tournee durch Belgien wieder schlimm sei. Obwohl Bruno vermutet, dass sie es selbst für ihren Geliebten besorgt, drückt er ihr beim Abschied an der Zimmertür ein paar Geldscheine in die Hand, damit sie etwas Essen kaufen kann.

Einige Zeit später sucht Bruno eine von ihren Freunden Tica genannte geschiedene Marquise auf, die für einige Zeit von New York nach Paris gezogen ist. Der Bassist Marcel Govoty und der Saxophonist Art Boucaya, die gerade bei ihr herumsitzen, finden es großartig, dass Bruno seinem Freund wieder ein Saxophon verschafft hatte, und sie schwärmen von ihrem Auftritt mit Johnny vor ein paar Tagen.

Brunos Biografie über Johnny Carter verkauft sich gut und wurde inzwischen auch aus dem Französischen ins Englische und Italienische übersetzt.

Ich weiß sehr wohl, dass das Buch nicht die Wahrheit über Johnny sagt (aber es lügt auch nicht), es beschränkt sich auf Johnnys Musik. Aus Takt, aus Güte, habe ich seine unheilbare Schizophrenie, den miesen Hintergrund der Droge, die Promiskuität dieses erbärmlichen Lebens nicht an den Tag bringen wollen. Ich habe mir zur Aufgabe gemacht, die Grundzüge herauszuarbeiten, und habe den Akzent auf das gelegt, was wirklich zählt, Johnnys unvergleichliche Kunst. (Seite 81)

Johnny ist für den Jazz der gewesen, der eine neue Seite aufschlägt. (Seite 30)

Ich beneide Johnny und gleichzeitig macht es mich wütend, dass er sich durch den schlechten Gebrauch seiner Gaben zerstört und aufgrund der Spannungen in seinem Leben haufenweise Torheiten begeht. (Seite 35)

Was für eine Art Evangelist bin ich denn? In Johnny gibt es keine Spur von Größe, ich weiß das, seit ich ihn kenne, seit ich ihn bewundern kann. (Seite 63f)

„[…] ein armer Teufel von kaum durchschnittlicher Intelligenz, der wie so viele Musiker, Schachspieler und Dichter die Gabe besitzt, großartige Dinge zu schaffen, ohne sich der Größe seines Werks im geringsten bewusst zu sein […] (Seite 91f)

Ich bin mir wohl bewusst, […] dass sein musikalisches Genie gleichsam eine Fassade ist, etwas, das alle Welt verstehen und bewundern kann, doch hinter der sich anderes verbirgt, und dies andere ist das Einzige, worauf es mir ankommen sollte, vielleicht weil es das Einzige ist, worauf es Johnny wirklich ankommt. (Seite 40)

[…] dass Johnny kein Opfer ist, kein Verfolgter, wie alle Welt glaubt, und wie ich selbst es in meiner Biografie habe durchblicken lassen […] Jetzt weiß ich, dass es nicht so ist, dass Johnny der Verfolger und nicht der Verfolgte ist, dass all das, was ihm im Leben zustößt, die Missgeschicke eines Jägers sind und nicht die eines gehetzten Tiers. Niemand kann wissen, was das ist, was Johnny verfolgt, aber dass er etwas verfolgt, ist offensichtlich […] (Seite 59)

Weil es Johnny nicht gelingt, das zu spielen, was er eigentlich ausdrücken möchte, zertrampelt er die Saxophone. Er sagt selbst, dass er gewissermaßen „ohne Wasser schwimmen“ wolle (Seite 88).

Zu einer Studioaufnahme kommt Johnny einige Stunden zu spät, leert dann seine Taschen, die voller Blätter von Bäumen sind, erzählt, er sei im Park über tausend vergrabene Urnen gelaufen und nicht in der Lage, zu spielen. Endlich überreden ihn die anderen Musiker, doch anzufangen. Er beginnt mit „Amorous“.

[…] wir setzen so gut wir können ein, und Johnny stellt sich breitbeinig hin, steht da wie auf einem schwankenden Boot und beginnt zu spielen, wie ich das, ich schwöre dir, noch nie gehört habe. Und das drei Minuten lang, bis er plötzlich einen Ton hervorstößt, der selbst die Harmonie des Himmels hätte zerstören können, sich in eine Ecke verkriecht und es uns überlässt, das Stück so gut sie können zu Ende zu spielen. (Seite 45)

Am nächsten Tag steht in der Zeitung, dass Johnny Carter sein Hotelzimmer in Brand steckte und nackt durch die Korridore lief. Zum Glück wurde niemand verletzt, und die Marquise, die sich wieder mit ihm versöhnt hatte, regelt den Schaden. Johnny wird allerdings in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses eingeliefert.

Als es ihm wieder besser geht, kommt die Nachricht aus Chicago, dass Bee, seine jüngste Tochter, gestorben ist. Johnny ist völlig verzweifelt.

Die Marquise kehrt nach New York zurück. Johnny Carter ebenfalls, und eine Zwanzigjährige namens Baby Lennox, die sich „nach der Mode von Saint-Germain-des-Prés kleidet“ (Seite 67), besteht darauf, ihn bei der Schiffsreise zu begleiten. Dédée bleibt in Paris und zieht zu dem Posaunisten Louis Perron. Brunos Frau, die sich inzwischen von einer Lungenentzündung erholt hat, ist immer noch wütend wegen seiner Affäre mit Baby Lennox, dabei sei das doch gar nicht ernst zu nehmen, meint Bruno, weil Baby Lennox mit jedem ins Bett geht.

In der Zeitung liest er Reportagen über Johnny Carter und erfährt von einem weiteren Selbstmordversuch des Jazzers. Fünf Tage nachdem Johnny wieder zur Marquise zog, sinkt er beim Fernsehen plötzlich auf den Boden und stirbt.

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Unverkennbar ist, dass Julio Cortázar bei der Figur des schwarzen Saxophonisten Johnny Carter in „Der Verfolger“ an Charlie Parker (1920 – 1955) dachte. In einprägsamen Szenen und Dialogen porträtiert Julio Cortázar einen genialen und zugleich selbstzerstörerischen Jazz-Musiker. Die Erzählung ist ein leidenschaftliches, mitreißendes, virtuoses „Solo für einen Besessenen“ (Roger Willemsen in: Süddeutsche Zeitung, 7. August 2004).

Souverän geht der argentinische Schriftsteller mit der Sprache um: Mitten im Satz wechselt er beispielsweise vom Imperfekt ins Präsens …

Dédée brachte noch eine Tasse Nescafé, doch Johnny sieht traurig sein leeres Glas an. (Seite 18)

… und eine komplette Passage steht im Futur:

[…] eines Abends werden Tica, Baby Lennox und ich im Café Flore sitzen […] Baby wird mit der Verzückung ihrer zwanzig Jahre sehen, wie Johnny auftaucht, und Johnny wird sie ansehen, ohne sie zu erkennen, wird vorbeigehen und sich allein an einen anderen Tisch setzen, völlig betrunken oder benebelt. Ich werde Ticas Hand auf meinem Knie fühlen […] (Seite 67f)

Der Argentinier Julio Cortázar wurde am 26. August 1914 in Brüssel geboren. Erst im Alter von vier Jahren kam er nach Buenos Aires und wuchs dort in einer kleinbürgerlichen Familie auf. Nach seiner Ausbildung arbeitete er zunächst als Gymnasiallehrer, später als Dozent für französische Literatur. Aus Protest gegen den Peronismus gab er 1946 die Karriere in staatlichen Einrichtungen auf und verdiente seinen Lebensunterhalt als Übersetzer. 1951 emigrierte er nach Paris. Dort erschienen im selben Jahr seine ersten Kurzgeschichten. Seinen Debütroman veröffentlichte Julio Cortázar erst im Alter von sechsundvierzig Jahren (Los premios, 1960; deutsch: Die Gewinner, 1966). Julio Cortázar gilt als einer der bedeutendsten argentinischen Schriftsteller des Surrealismus.

Er starb am 12. Februar 1984 in seiner Wahlheimat Paris.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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