Veza Canetti : Die Gelbe Straße

Die Gelbe Straße
Die Gelbe Straße Manuskript: 1932/33 Carl Hanser Verlag, München 1990 Vorwort: Elias Canetti Nachwort: Helmut Göbel dtv, München 2000 ISBN 978-3-423-12831-5, 184 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Frauen, die es in die "Gelbe Straße" verschlagen hat, werden Opfer von Tücke, Gewalt, Geldgier und Geltungssucht. Der gewalttätige Mitgiftjäger Iger, die skrupellose "Dienstvermittlerin" Hatvany, der kriminelle Bankier Schleier und die menschenverachtende, verkrüppelte Frieda Runkel sind nur einige der skurrilen Typen, die diesen Kosmos bevölkern.
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Kritik

Die Wiener "Arbeiter-Zeitung" veröffentlichte 1932/33 zwei Erzählungen von Veza Canetti, die sie später mit drei anderen zu dem Roman "Die Gelbe Straße" zusammenfügte, der aber erst 1990 – siebenundzwanzig Jahre nach ihrem Tod – veröffentlicht wurde.
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Eines Tages, als die Runkel im Kinderwagen über die Straße geführt wurde, überkam sie eine solche Verzweiflung über ihr elendes Leben, dass sie nichts anderes wünschte, als ein schwerer Lastwagen, ein Viehwagen, eine Tausend-Kilo-Walze oder eine vierfache Straßenbahn möge über ihren fürchterlichen Körper fahren und ihn zermalmen. Sie gab daher dem Dienstmädchen Rosa, das sie seit Jahren betreute, pflegte, vom Wagen in die Wohnung trug, von der Wohnung in den Wagen, ganz sinnlose Zeichen, fahrige, nervöse Zeichen, wie sie die Straße überqueren sollte, sie verwirrte sie durch zornige Zwischenrufe derart, dass sie wirklich in ein herbeirasendes Motorrad hineinfuhr. Nur zermalmte dieses Motorrad nicht die Runkel, sondern das Dienstmädchen Rosa, denn die treue Seele schob buchstäblich im letzten Augenblick ihres Lebens den Wagen mit dem Krüppel rasch vor, schützte ihn mit ihrem Leib und holte sich den Tod. Die Runkel aber lag auf dem Boden und hatte beide Arme gebrochen, zum zwölften Mal in ihrem Leben hatte sie einen Gliederbruch, gewöhnlich waren es die Beine, die ganz kurz und leblos herunterhingen, wie bei einem Hampelmann.

So beginnt der Roman „Die Gelbe Straße“. Die verkrüppelte Frieda Runkel ist 36 Jahre alt und besitzt ein Seifengeschäft, von dem aus sie den gegenüberliegenden Tabakladen belauert, der ihr ebenfalls gehört. Am Ende des Romans wird sie im Sarg aus dem Haus getragen.

Auch Herr Iger wohnt in der „Gelben Straße“. Eines Tages bringt er seine frisch angetraute Ehefrau Maja mit.

Die junge Frau betrat die Wohnung. Ein dunkler Vorraum hatte keine Beleuchtung, doch rasch entflammte Herr Iger das Licht im Zimmer. Es war ein braunes Schlafzimmer aus mattem Holz. Herr Iger und der Hauswart schleppten den Koffer und die Handtaschen herein. Die junge Frau sah sich nach einer Tür um. Da war keine Türe mehr.
„Wo sind die andern Zimmer?“, fragte sie ihren Mann.
„Ich bin kein Krösus. Ich bin ein kleiner Kaufmann.“

Dabei verfügt Herr Iger nun über die stattliche Mitgift seiner Frau Maja. Das viele Geld verwendet er, um in der Öffentlichkeit seine sonst gar nicht vorhandene Großzügigkeit zu demonstrieren. Vor allem auf Wohltätigkeitsveranstaltungen lässt er sich als der große Spender feiern. Aber für sich, seine Familie oder seine Angestellten würde er am liebsten keinen Pfennig ausgeben.

Nachdem er wieder einmal wütend aus der Wohnung gestürzt ist und die Tür offen gelassen hat, wird Maja Iger von einer Nachbarin gefunden. Sie kauert benommen in einer Ecke und ist böse zugerichtet. Die Nachbarin nimmt sie vorübergehend bei sich auf und rät ihr, am nächsten Morgen einen Rechtsanwalt aufzusuchen. Noch in der Nacht überredet Herr Iger seine Frau, in seine Wohnung zurückzukehren, und obwohl sie sich wehrt, schläft er mit ihr. Aufgrund dieser Intimität nach dem Streit, erklärt ihr anderntags der Anwalt, seien eine Klage oder ein Scheidungsverfahren aussichtslos.

Einige Jahre später stirbt Majas Vater und hinterlässt ihr eine beträchtliche Erbschaft. Sie soll das Vermögen selbst verwalten und es auf keinen Fall ihrem Mann überlassen. Aber Herr Iger bearbeitet seine Frau so lange, bis sie bereit ist, mit ihm zur Bank zu gehen. Auf dem Weg bricht sie zusammen, und in ihrer geistigen Verwirrung kann sie sich nicht mehr an das Losungswort erinnern. Sie wird in ein Sanatorium eingeliefert, und ihre Mutter bringt das Geld vor dem Schwiegersohn in Sicherheit.

Auch die Familie Sandoval, der es an Geld fehlt, löst dieses Problem durch die Heirat des Sohnes mit einer reichen Frau. Von der Mitgift kauft Herr Sandoval eine Fabrik, aber nachdem diese bankrott gegangen ist, spielt Andrea Sandoval nachmittags im Kaffeehaus „Planet“ Klavier, um etwas Geld für sich und ihre Tochter Diana zu verdienen.

Diana möchte Bildhauerin werden, aber sie bemüht sich vergeblich, Aufträge zu bekommen. Nur Herr Tiger, ein Banause, der eigentlich Derdak heißt und das Kaffeehaus „Planet“ sowie vier andere Cafés besitzt, möchte seinen Kopf von Diana modellieren lassen. Eines Tages fährt er mit Andrea Sandoval und deren Klavierpartner Zierhut in ein Etablissement außerhalb der Stadt. Nachdem Herr Zierhut in einen Nebenraum gegangen ist, gibt er seiner Begleiterin 100 Schilling als Honorar für die Büste, die ihre Tochter für ihn anfertigen soll und zieht sich mit ihr in ein Separée zurück.

„Bitte, lassen Sie die Vorhänge oben, Herr Zierhut wird gleich hereinkommen, er könnte das missdeuten.“
„Zierhut kommt nicht.“
„Wie meinen? Bitte, lassen Sie mich … was fällt Ihnen ein … ich … ich … muss fort … Ich gehe!“
„Sie gefallen mir sehr gut.“
„Bitte, lassen Sie mich doch, meine Tochter kann jeden Augenblick eintreten, wenn Sie mich nicht lassen …“
„Ihre Tochter weiß nicht, wo wir sind.“
„Doch, Sie weiß es, ich hinterließ ihr Bescheid beim Ober, sie kommt mir bestimmt nach, sie fährt gern ins Freie, sie wird gleich hier sein.“
„Was! Sie gehn mit mir in ein Separée und bestellen Ihre Tochter nach! Glauben Sie, ich bin verrückt! Ich lass mich nicht ausbeuten!“
„Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Tiger, ich bin mit Ihnen in kein Separée gegangen. Sie werden entschuldigen, wenn ich Sie jetzt verlasse, hier ist Ihr Geld.“
„Bleiben Sie da, wie schaut das aus, ich lass mich nicht blamieren! Wenn Sie nicht wollen, kann man nichts machen. Ich tu Ihnen auch nichts.“

In einem der Treppenhäuser an der „Gelben Straße“ sitzt das Mädchen Hedi mit seinem großen Hund Grimm. Die Tochter der Hausangestellten Hedwig Adenberger spielt mit Banknoten, Gold- und Silbermünzen aus verschiedenen Ländern. Als erster kommt der Sohn des Kaufmanns Last vorbei und greift nach dem Geld, aber Grimm beißt ihm in den Arm. Schließlich holen die Bewohner des Mietshauses einen Polizisten.

Da öffnet sich eine weitere Türe. Bankier Schleier erscheint mit zwei Kriminalpolizisten. Sie durchsuchten sein Büro, weil er angeblich verbotene Währungen besitzt. Sie fanden nichts, weil Schleier von seiner Typistin gerade noch rechtzeitig gewarnt worden war und seine Börse hinter den Lift geworden hatte.

Die beiden Kriminalbeamten stutzen, als sie das Kind mit dem Geld spielen sehen. „Wo hast du das gefunden?“ Hedi zeigt zum Aufzug. Ob Hedi wisse, wer das Geld dahin gelegt habe. Hedi hat es gesehen, aber sie will nicht, dass der ekelhafte Bankier Schleier seine Börse zurückbekommt und lächelt deshalb nur. Schleier, der sich darüber im Klaren ist, dass er zwischen Besitz und Freiheit wählen muss, leugnet heftig, der Besitzer zu sein. Da beschließt die Polizei, das Geld erst einmal im Amt aufzubewahren. Falls sich der Besitzer nicht melde, gehöre es nach Ablauf einer bestimmten Frist dem Kind, dessen Namen und Adresse die Beamten von dem Bankier erfragen.

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Venetiana („Veza“) Taubner-Caldero wurde 1897 in Wien als Tochter eines jüdischen Kaufmanns geboren. 1934 heiratete sie den Chemiestudenten und späteren Schriftsteller Elias Canetti (1905 – 1994). Die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an ihren Mann im Jahr 1981 erlebte sie nicht mehr: Veza Canetti war 1963 gestorben.

Veza Canetti setzte sich vor allem für das Werk ihres Mannes ein und gilt als seine wichtigste literarische Beraterin. Elias Canetti erzählt, sie habe schon früh an seine literarische Begabung geglaubt, aber als er dann Erfolg hatte, sei sie erschrocken, „denn es drohte uns zu zerstören: sie, mich selbst, unsere Liebe, unsere Hoffnung. Um sich nicht aufzugeben, begann sie selber zu schreiben, und um die Geste des großen Vorhabens, die ich brauchte, nicht zu gefährden, behandelte sie ihr Eigenes, als wäre es nichts“.

Die Wiener „Arbeiter-Zeitung“ veröffentlichte 1932/33 zwei Erzählungen („Ein Kind rollt Gold“, „Der Kanal“) von Veza Canetti, die sie später mit drei anderen zu dem Roman „Die Gelbe Straße“ zusammenfügte, der aber erst 1990 – siebenundzwanzig Jahre nach ihrem Tod – veröffentlicht wurde. (Die Episode über Herrn Iger und seine Frau Maja taucht übrigens auch in einem Bühnenstück von Veza Canetti auf.)

Es ist eine merkwürdige Straße, die Gelbe Straße. Es wohnen da Krüppel, Mondsüchtige, Verrückte, Verzweifelte und Satte.

Vorbild der „Gelben Straße“ war die Ferdinandstraße im II. Bezirk der Stadt Wien, wo bis in die Dreißigerjahre vorwiegend Juden und Lederhändler lebten. Veza Canetti wohnte selbst einige Zeit in der Straße und kannte sie daher gut.

Das Gelb im fiktiven Straßennamen erinnert nicht nur an die in der Ferdinandstraße vorherrschende Farbe der Geschäftsschilder und der Warenballen der Lederhändler, sondern es galt bereits im Mittelalter auch als Schandfarbe und wird mit Gold, Neid und Eifersucht assoziiert.

Die Frauen, die es in die „Gelbe Straße“ verschlagen hat, werden Opfer von Tücke, Gewalt, Geldgier und Geltungssucht. Der gewalttätige Mitgiftjäger Iger, die skrupellose „Dienstvermittlerin“ Hatvany, der kriminelle Bankier Schleier und die menschenverachtende, verkrüppelte Frieda Runkel sind nur einige der skurrilen Typen, die diesen Kosmos bevölkern.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Elias Canetti (Kurzbiografie)

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