Albert Camus : Der erste Mensch

Der erste Mensch
Erstausgabe: Le premier homme, Paris 1994 Der erste Mensch Übersetzung: Uli Aumüller Rowohlt Verlag, Reinbek 1995
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Albert Camus beschreibt seine Kindheit, die er mit seiner fast stummen, analphabetischen Mutter und einer dominanten Großmutter im Armenviertel Algiers verbringt. Er möchte mehr über seinen Vater erfahren, der starb, als Albert ein Jahr alt war.
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Kritik

Ein handgeschriebenes Manuskript, das nach Camus' tödlichem Autounfall 1960 bei ihm gefunden wurde, erschien erst nach 34 Jahren, ohne dass an dem unkorrigierten Fragment Änderungen vorgenommen wurden.
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Am 4. Januar 1960 starb der siebenundvierzigjährige Albert Camus bei einem Autounfall. In seiner Aktentasche wurde ein handgeschriebenes, nicht überarbeitetes Manuskript gefunden. Es handelt sich um eine Autobiografie, die hauptsächlich die Kindheit des Autors beschreibt. Die Person Camus heißt in dem Roman Jacques Cormery. (Cormery ist der Mädchenname seiner Großmutter.)

Jacques‘ Vater, ein gebürtiger Elsässer, wanderte nach Algerien aus. Mit seiner hochschwangeren Frau fährt er im November 1913 zu dem Gutshof, in dem er als Verwalter eine Stelle angenommen hat. Unmittelbar nach der Ankunft wird die junge Frau unter improvisierten und nicht gerade hygienischen Umständen von ihrem zweiten Sohn entbunden. Der Vater erhält bald darauf seine Einberufung in den Krieg. In der Marneschlacht stirbt er im Oktober 1914. Da ist Jacques ein Jahr alt.

Die Witwe zieht mit den beiden Söhnen zu ihrer Mutter nach Algier, die dort in dem Armenviertel Belcourt wohnt. Hier wächst Jacques in ärmlichsten Verhältnissen auf. Seine von ihm über alles geliebte Mutter ist durchsetzungsschwach, was wohl auch daran liegt, dass sie fast taub und Analphabetin ist. Sie hat sich ein Leben lang hinter einer „unsichtbaren Schranke verschanzt.“

… sanft, höflich, verbindlich, sogar passiv und dennoch von nichts und niemand eingenommen, isoliert in ihrer Halbtaubheit, mit ihren Sprachschwierigkeiten, zwar schön, aber nahezu unzugänglich, und desto unzugänglicher, je freundlicher sie war und je stärker sein Herz zu ihr hindrängte — ja, sein Leben lang hatte sie den gleichen furchtsamen, ergebenen und doch zurückhaltenden Ausdruck gehabt, den gleichen Blick, mit dem sie … zuvor ohne einzugreifen mit ansah, wie ihre Mutter Jacques mit der Peitsche schlug, sie, die ihre Kinder nie angerührt, sie nie wirklich ausgeschimpft hatte, sie, bei der man keine Zweifel haben konnte, dass diese Schläge auch ihr furchtbar weh taten, sie, die es aber — wegen ihrer Müdigkeit, ihrer Schwäche im Ausdruck und der ihrer Mutter schuldigen Achtung vom Eingreifen abgehalten — geschehen ließ, es tagelang und jahrelang erduldete, das Schlagen ihrer Kinder erduldete, wie sie selbst den harten Arbeitstag im Dienste anderer erduldete, die auf Knien gescheuerten Parkettböden, das Leben ohne Mann und ohne Trost zwischen den fettigen Speiseresten und der schmutzigen Wäsche anderer, die langen Tage des Schuftens, die sich aneinanderfügten, um ein Leben zu bilden, das dadurch, dass es ohne Hoffnung war, auch ein Leben ohne jeden Groll wurde, ein unwissendes, eigensinniges und schließlich in alle Leiden, ihre eigenen und die anderer, ergebenes Leben.

Sie lässt es auch geschehen, dass ihre Mutter einen an ihr interessierten Mann vor die Türe setzt. Ein Eindringling würde die eingeschworene Wohngemeinschaft nur stören.

Das Zepter führt die Großmutter. Mit straffer Hand organisiert sie den Tagesablauf. Es fehlt immer an Geld; man lebt von der Hand in den Mund. Sparsamkeit ist oberstes Gebot: Fußballspielen ist Jacques verboten; die zur Schonung der Schuhsohlen angebrachten Nägel werden von ihr kontrolliert. Wenn sie dabei doch Abnutzungsspuren feststellt, gibt es eine Kopfnuss.

Eigentlich hatte niemand dem Kind beigebracht, was gut oder was böse war. Manche Dinge waren verboten, und Verstöße wurden hart bestraft. Andere nicht.

Einmal fällt Jacques durch einen Riss in der Hosentasche ein 2-Franc-Stück auf die Erde. Er findet es wieder, und versteckt es. Mit der Ausrede, die Münze sei ihm beim Herunterlassen der Hose in das Loch des Aborts gefallen, erklärt er der Großmutter des Fehlen des Geldes. (Es gab tatsächlich nur einen Abtritt auf dem Vorplatz der Etage.) Sie glaubt ihm nicht. Nach mehrmaligem Nachfragen nimmt sie die Suche selbst in die Hand.

Und voller Entsetzen sah Jacques sie den rechten Ärmel hochkrempeln, ihren knotigen weißen Arm entblößen und auf den Vorplatz hinausgehen. Er stürzte, dem Erbrechen nahe, ins Esszimmer. Als sie ihn rief, fand er sie, den rechten Arm voll grauer Seife, vor dem Ausguss, wo sie sich mit viel Wasser abspülte. „Da war nichts drin“, sagte sie. „Du bist ein Lügner.“ Er stotterte: „Aber es kann weggespült worden sein.“ Sie zögerte. „Vielleicht. Aber wenn du gelogen hast, wirst du keine Freude daran haben.“

Ein wenig Abwechslung bringt der behinderte Bruder seiner Mutter, der mit seinem stinkenden Hund ebenfalls im Haushalt wohnt, in das eintönige, arbeitsreiche Leben des Jungen. Der Onkel kann zwar fast nicht sprechen, dennoch ist er der Einzige in der Familie, der sich Zerstreuung gönnt. Auf einen sonntäglichen Jagdausflug nimmt er Jacques mit oder er zeigt ihm die Pferdeställe eines Fuhrunternehmers.

Jacques‘ älterer Bruder, mit dem er in einem Zimmer schläft, kommt in dem Roman kaum vor. Und wenn, erscheint er in keinem besonders guten Licht.

In Monsieur Bernard (wirklicher Name: Louis Germain) hat Jacques einen Volksschullehrer, dem er viel zu verdanken hat. Dieser Lehrer erkennt die Begabung des aufgeweckten Jungen und kann die Großmutter dazu überreden, ihre Einwilligung zu geben, Jacques die Mittelschule besuchen zu lassen Das Lycée ist eine völlig neue Welt für den mit großen neuen Schuhen und frisch gestärktem Hemd ausstaffierten Jungen aus dem Armenviertel. Auf diese Schule gehen die privilegierten Franzosen und nicht die Araber-Rabauken, mit denen er in den Hinterhöfen gespielt hat. Der Klassenunterschied fällt ihm zum ersten Mal auf, als er ein Formular für die Schule ausfüllen soll. Es wird unter anderem nach dem Beruf der Mutter gefragt.

Zuerst hatte er „Hausfrau“ hingeschrieben, während Pierre „Postangestellte“ geschrieben hatte. Aber Pierre erläuterte ihm, Hausfrau sei kein Beruf, sondern meine eine Frau, die das Haus verwahrt und ihren Haushalt macht. „Nein“, sagte Jacques, „sie macht den Haushalt der anderen und vor allem den des Kurzwarenhändlers gegenüber.“ – „Tja“, sagte Pierre zögernd, „ich glaube, du musst Hausbedienstete hinschreiben.“

Zur Abschlussfeier des Schuljahres kommen auch seine Mutter und Großmutter, die sich fein herausgeputzt haben. Trotz der stundenlangen Prozedur der Preisverleihung in drückender Hitze verlieren sie nicht die Geduld, obwohl sie doch gar nicht verstehen können, was vor sich geht.

Bei einer Familie, in der wenig gesprochen, in der weder gelesen noch geschrieben wurde, bei einer unglücklichen, geistesabwesenden Mutter, wer hätte ihn über [seinen] jungen, bemitleidenswerten Vater informieren sollen? Niemand hatte ihn gekannt, außer seiner Mutter, die ihn vergessen hatte.

Auf einem Kriegsgräberfriedhof besucht Jacques das Grab seines Vaters. Als er darauf die Jahreszahlen 1885 – 1914 liest, kommt ihm erst richtig zum Bewusstsein, dass dieser mit 29 Jahren gestorben ist. Und er, Jacques, ist jetzt 40.

Der unter dieser Steinplatte begrabene Mann, der sein Vater gewesen war, war jünger als er. Und die Welle von Zärtlichkeit und Mitleid, die auf einmal sein Herz überflutete, war nicht die Gemütsregung, die den Sohn bei der Erinnerung an den verstorbenen Vater überkommt, sondern das verstörte Mitgefühl, das ein erwachsener Mann für das ungerecht hingemordete Kind empfindet — etwas entsprach hier nicht der natürlichen Ordnung, und eigentlich herrschte hier, wo der Sohn älter war als der Vater, nicht Ordnung, sondern nur Irrsinn und Chaos.

Die erschütternde Erkenntnis, dass Jacques über seinen Vater und auch über die Familie nichts mehr erfahren wird, macht ihn zum „ersten Menschen“, der nach seinen Wurzeln sucht.

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Das Manuskript, das nach dem Unfall Albert Camus‘ gefunden wurde, ist ein Fragment, 144 Seiten eng handgeschrieben und nicht überarbeitet. Erst 34 Jahre nach seinem Tod wurde es veröffentlicht. Die unleserlichen Stellen werden als solche gekennzeichnet, die Arbeitsnotizen sind mit aufgeführt. Das Manuskript hatte zunächst Francine Camus (die Witwe) mit Maschine abgeschrieben. Nach deren Tod hat die Tochter Catherine lange gezögert, der Veröffentlichung zuzustimmen.

„Dies ist kein Roman mit autobiografischen Elementen, sondern eine Autobiografie in der Form eines Romans“ (Süddeutsche Zeitung, 16. / 17. September 1995). Trotz des eingeschränkten Lebens in einem Armenviertel in Algier und der ärmlichen Lebensumstände in einer analphabetischen Familie hört man kein Jammern und Anklagen. Ohne Larmoyanz schildert Albert Camus, wie er zwischen seiner geliebten, fast tauben Mutter und der dominaten Großmutter aufwächst. Auf der Suche nach einer Vaterfigur beginnt der Autor über seine Herkunft zu reflektieren.

Die persönliche, aufrichtige, ungeschönte Lebensbetrachtung des Literaturnobelpreisträgers (1957) ist insofern eine Bereicherung für den Leser als sie zum besseren Verständnis des atheistischen Autors beiträgt, der davon überzeugt ist, dass der Mensch sich gegen seine Situation auflehnen kann.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2003
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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