Thomas Bernhard : Holzfällen

Holzfällen
Holzfällen. Eine Erregung Erstausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1984
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Roman "Holzfällen" beginnt mit dem Satz: "Während alle auf den Schauspieler warteten, der ihnen versprochen hatte, nach der Aufführung der Wildente gegen halbzwölf zu ihrem Abendessen in die Gentzgasse zu kommen, beobachtete ich die Eheleute Auersberger genau von jenem Ohrensessel aus, in welchem ich in den frühen Fünfzigerjahren beinahe täglich gesessen war und dachte, dass es ein gravierender Fehler gewesen ist, die Einladung der Auersberger anzunehmen."
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Kritik

Thomas Bernhard schmäht die Gesellschaft, indem er seine Selbstverachtung auf die anderen projiziert. Dabei wiederholt und variiert er seine Themen unaufhörlich, wie in einem Musikstück, etwa dem "Bolero". Trotz der Hoffnungslosigkeit wirkt der kunstvolle Roman "Holzfällen" nicht düster, sondern eher tragikomisch.
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Künstlerisches Abendessen beim Ehepaar Auersberger

Der Erzähler ist 52 Jahre alt und kehrte gerade nach 25 Jahren aus London nach Wien zurück. Er hält sich von seinen früheren Freunden fern, aber bald schon durchbricht er seine Einsamkeit, indem er täglich auf dem Graben und in der Kärtnerstraße spazieren geht.

Eines Morgens erfährt er, dass Joana, mit der er früher befreundet war, um die er sich jedoch seit zehn Jahren nicht mehr gekümmert hat, freiwillig aus dem Leben geschieden ist. Sie hat sich erhängt. Wenige Stunden später begegnet er auf dem Graben dem Ehepaar Auersberger und wird zu einem „künstlerischen Abendessen“ eingeladen. Es findet am Tag der Beerdigung Joanas statt, und zwar zu Ehren eines Burgschauspielers, der an diesem Abend in der „Wildente“ von Henrik Ibsen auftritt. Der Erzähler setzt sich neben der Eingangstür in einen Ohrensessel und beobachtet die Leute, die an ihm vorbei ins Musikzimmer gehen und dort von Frau Auersberger begrüßt werden. Es sind die Leute, mit denen er vor 25 oder 30 Jahren befreundet gewesen war und die auch an der Beerdigung am Vormittag teilnahmen, allesamt Künstler und Künstlerinnen. Wenn jemand zurückblickt und ihn im Schatten erkennt, tut er so, als sei er vom Tod der früheren Freundin so ergriffen, dass er nichts wahrnimmt.

Er ärgert sich, dass er die Einladung angenommen hat. Viel lieber hätte er gelesen oder Musik gehört. Die Freunde von damals sind ihm zuwider. Alle waren sie in den Fünfzigerjahren, also vor 30 oder 40 Jahren, nach Wien gekommen in der Hoffnung, dort Karriere zu machen. Vergeblich. Nur zu „Künstlerattrappen“ haben sie es gebracht. Der Erzähler hält sie für „perfide Gesellschaftsonanisten“: Die „leben und leben und leben und langweilen sich im Grunde durch ihr ganzes leben und werden älter und älter und älter und sind nichts als nutzlos.“ Er sinniert: „Künstlertum heißt in Österreich für die meisten, sich dem Staat, gleich welchem, gefügig zu machen und sich von ihm aushalten zu lassen lebenslänglich. Das österreichische Künstlertum ist ein gemeiner und verlogener Weg des Staatsopportunismus, der mit Stipendien und Preisen gepflastert und mit Orden und Ehrenzeichen tapeziert ist und der in einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof endet.“ Am schlimmsten findet er seine engsten Freunde von damals: das Ehepaar Auersberger. Frau Auersberger ist Sängerin, Herr Auersberger Komponist, ein „armseliger talentierter Spießbürger“, ein „vom Vermögen seiner Frau stumpfsinnig gewordener Gesellschafts-Kopist“. „Wie Bruckner unerträglich monumental, so ist Webern unerträglich dürftig und noch hundertmal dürftiger als der dürftige Anton von Webern ist der Auersberger.“

Nur die Tote lässt er gelten; sie besaß in seinen Augen sowohl künstlerisches als auch gesellschaftliches Talent. Joana war ihr Künstlername; eigentlich hieß sie Elfriede Slukal. Sie konnte sich nie entscheiden, ob sie Schauspielerin oder Ballerina werden wollte und nannte sich schließlich Choreographin. Joana heiratete einen Teppichkünstler namens Fritz, und weil sie einsah, dass ihr keine große Künstlerkarriere möglich sein würde, „hat sie den Fritz in die Karriere und in die sogenannte Weltkarriere hineingezwungen, in eine Art von Weltkarrierezwangsjacke“. Doch als er sich mit ihrer Hilfe einen Namen gemacht hatte, verließ er sie nach zehn Jahren Ehe und ging mit ihrer besten Freundin nach Mexiko. Später lebte Joana mit einem Mann zusammen, der Friedrich hieß, den sie aber John nannte. Sie begann zu trinken, und jetzt, im Alter von 52 Jahren, hat sie sich erhängt.

Der Burgschauspieler

Der Erzähler scheint ein wenig eingenickt zu sein in dem Ohrensessel neben dem Eingang, denn er hat nicht mitbekommen, wie der Burgschauspieler um 0.30 Uhr eingetroffen ist. Endlich kann zu Tisch gebeten werden. Der Burgschauspieler ist ein eitler Wichtigtuer, der „Prototypus des durch und durch fantasielosen und also völlig geistlosen Poltermimen“, aber die anderen Gäste hängen an seinen Lippen, während er über sein Metier spricht.

Einen Fogosch um dreiviertelein Uhr nachts wegen eines Burgschauspielers, in dessen Barthaaren sich jetzt, da er seine Kartoffelsuppe mit der größten Geschwindigkeit, also wie ausgehungert, halb ausgelöffelt hatte, diese Kartoffelsuppe verfangen hatte. Der Ekdal, sagte er und löffelte die Suppe, der Ekdal ist schon jahrzehntelang meine Wunschrolle gewesen, und er sagte, wieder Suppe löffelnd, und zwar alle zwei Wörter einen Löffel Suppe nehmend, also er sagte der Ekdal und löffelte Suppe und sagte war schon und löffelte Suppe und immer meine und löffelte Suppe und sagte Lieblingsrolle gewesen und löffelte Suppe und er hatte auch noch zwischen zwei Suppenlöffeln seit Jahr- und dann wieder nach zwei Suppenlöffeln zehnten gesagt und das Wort Wunschrolle genauso, als redete er von einer Mehlspeise, denke ich. Mehrere Male sagte er der Ekdal ist meine Lieblingsrolle, und ich fragte mich sofort, ob er auch dann immer wieder von dem Ekdal als seiner Lieblingsrolle gesprochen hätte, wenn er keinerlei Erfolg mit seinem Ekdal gehabt hätte. Hat ein Schauspieler in einer Rolle Erfolg, sagt er, es sei seine Lieblingsrolle, hat er mit seiner Rolle keinen Erfolg, sagt er nicht, dass es seine Lieblingsrolle ist, dachte ich. Immer wieder löffelte der Burgschauspieler die Kartoffelsuppe und sagte, der Ekdal sei seine Lieblingsrolle.

Nur die Schriftstellerin Jeannie Billroth versucht den Burgschauspieler anzugreifen. Der reagiert mit den Worten: „Sie gehören zu diesen Leuten, die nichts wissen und die nichts wert sind und deshalb alles andere hassen, so einfach ist das, Sie hassen alles, weil Sie sich selbst hassen in Ihrer Erbärmlichkeit.“

Beim Kaffee im Musikzimmer legt der Burgschauspieler, der einige Gläser Wein getrunken hat, unvermittelt ein pathetisches Bekenntnis zur Natur ab: „Wald, Hochwald, Holzfällen, das ist es immer gewesen, sagte er plötzlich aufgebracht.“

Abschied

Beim Abschied küsst der Erzähler Frau Auersberger auf die Stirn und ärgert sich sogleich über diese verlogene Geste.

… aber ich hielt mir doch jetzt vor, der Auersberger einen Kuss auf die Stirn gegeben zu haben, nach zwanzig Jahren, vielleicht sogar nach zwei- oder dreiundzwanzig Jahren, in welchen ich sie nichts weniger als gehasst habe, mit dem gleichen Hass, mit dem ich in diesen Jahren auch ihren Mann gehasst habe und dass ich ihr auch noch vorgelogen habe, ihr sogenanntes künstlerisches Abendessen sei mir ein Vergnügen gewesen, wo es mir doch nichts weniger als abstoßend gewesen war. Um uns aus einer Notsituation zu erretten, denke ich, sind wir selbst genauso verlogen wie die, denen wir diese Verlogenheit andauernd vorwerfen und derentwegen wir alle diese Leute fortwährend in den Schmutz ziehen und verachten, das ist die Wahrheit; wir sind überhaupt um nichts besser, als diese Leute, die wir andauernd nur als unerträgliche und widerliche Leute empfinden, als abstoßende Menschen, mit welchen wir möglichst wenig zu tun haben wollen, während wir doch, wenn wir ehrlich sind, andauernd mit ihnen zu tun haben und genauso sind wie sie. Wir werfen allen diesen Leuten alles mögliche Unerträgliche und Widerwärtige vor und sind selbst um nichts weniger unerträglich und widerwärtig und sind vielleicht noch viel unerträglicher und widerwärtiger als sie, denke ich. Ich habe zur Auersberger gesagt, dass ich froh bin darüber, die Verbindung zu ihnen, den Eheleuten Auersberger, wieder aufgenommen zu haben, nach zwanzig Jahren wieder bei ihnen in der Gentzgasse gewesen zu sein und ich hatte, während ich das zu ihr gesagt habe, gedacht, was für ein gemeiner, verlogener Mensch ich bin, der tatsächlich vor nichts, aber auch schon vor gar nichts, nicht vor der gemeinsten Lüge, zurückschreckt. Dass mir der Burgschauspieler gefallen habe, dass mir die Anna Schreker gefallen habe, selbst dass mir die beiden jungen Schriftsteller und die zwei Ingenieursanwärter gefallen hätten, sagte ich zur Auersberger im Vorhaus oben stehend, während die anderen Gäste die Treppe hinunter gingen, ich sie also als abstoßend empfunden habe, während sie die Treppe hinunter gingen, während ich gleichzeitig zur Auersberger gesagt habe, sie hätten mir alle sehr gut gefallen. Dass ich zu einer solchen ganz gemeinen Verlogenheit fähig bin, dachte ich, während ich noch mit der Auersberger gesprochen habe, dazu fähig bin, ihr ganz offen ins Gesicht zu lügen, dass ich imstande bin, ihr genau das Gegenteil von dem, das ich gerade empfand, nur weil es mir den Augenblick erträglicher machte, ins Gesicht zu sagen und ich hatte ihr auch noch ins Gesicht gesagt, dass es mir Leid täte, dass ich an diesem Abend ihre Stimme nicht gehört habe, keine ihrer immer so schön, ja so vorzüglich, ja so einzigartig gesungenen Purcellarien und dass es mir überhaupt alles in allem Leid täte, dass ich zwanzig Jahre lang den Kontakt zu ihr und zu ihrem Mann, dem Auersberger, unterbrochen habe, was wieder nichts als nur gelogen und tatsächlich eine meiner gemeinsten und niederträchtigsten Lügen gewesen war. Dass ich es als besonders bedauerlich empfände, dass die Joana an diesem Abend nicht anwesend sein konnte, hatte ich auch noch gesagt und dass es wahrscheinlich ganz im Sinne der Joana sei, dass wir, also ich und die Auersberger, jetzt, da ich aus London mehr oder weniger, auf lange, wenn nicht endgültig zurück sei, wieder Kontakt haben und in Zukunft wahrscheinlich wieder einen solchen Kontakt pflegen werden, log ich der Auersberger direkt ins Gesicht, während die anderen gerade das Haus verließen, wie ich von oben, mit der Auersberger im Vorhaus stehend, hören konnte.

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Die erste Hälfte des Romans „Holzfällen“ besteht aus einem inneren Monolog des Erzählers. Er sitzt im Ohrensessel (was er auch immer wieder erwähnt), beobachtet die anderen Gäste, die ihm alle zuwider sind und ärgert sich darüber, dass er die Einladung angenommen hat. Dann folgt der Monolog des Burgschauspielers während des Essens, und im letzten Viertel überwiegt erneut das Sinnieren des Erzählers. Eine Aufteilung in Kapitel oder Abschnitte gibt es in „Holzfällen“ ebenso wenig wie eine Strukturierung in Absätzen. In einem unendlichen Gedankenreigen folgt ein seitenlanger Schachtelsatz auf den anderen. Weniger die Sprache als die Gedankenführung lässt mich an Musik denken: Thomas Bernhard wiederholt und variiert immer wieder dieselben Themen. So ist es wohl auch kein Zufall, dass einmal ausgerechnet eine Platte mit dem „Bolero“ von Maurice Ravel aufgelegt wird. Diese Art zu schreiben versteht Thomas Bernhard auf so virtuose Weise, dass ich das Buch mit roten Ohren in einem Stück gelesen habe. Es ist ohnehin ratsam, den Roman ohne Unterbrechung zu lesen, weil jede Pause eine unpassende Zäsur darstellen würde.

„Je gebildeter die Leute werden“, schreibt Thomas Bernhard in „Ein Kind“, „desto unerträglicher wird ihr Geschwätz.“ Die Menschen in der Provinz lässt er noch gelten, aber die Großstadtbürger, besonders die Wiener, stoßen ihn ab, schlimmer noch die Kulturbeflissenen, und am abscheulichsten findet er die Burgschauspieler. Er kritisiert die Gesellschaft, schmäht sie, ohne dabei eine Absicht zu verfolgen; er projiziert nur seine Selbstverachtung auf die anderen. Thomas Bernhard glaubte nicht, er könne die Menschen verändern. Aber trotz seiner Hoffnungslosigkeit wirkt der Roman nicht düster, sondern eher tragikomisch.

Gleich nach der Veröffentlichung von „Holzfällen“ erwirkten der Komponist Gerhard Lampersberg und seine Frau, die Sängerin Maja Lampersberg, eine einstweilige Verfügung des Wiener Landgerichts, und vom 31. August 1984 an durfte das Buch in Österreich nicht mehr verkauft werden. Das Ehepaar klagte, es handele sich bei „Holzfällen“ um einen Schlüsselroman, und mit den „Auersbergers“ seien sie gemeint. (Im Februar 1985 wurde die Klage zurückgezogen.)

Sofort begann das Rätselraten, wen Thomas Bernhard wohl mit den anderen Figuren in „Holzfällen“ gemeint haben könnte. Bei Joana ist es offensichtlich: Es handelt sich um Elfriede Sklusal aus Kilb in Niederösterreich, die man unter dem Künstlernamen Joana Thul kannte. Verheiratet war sie mit dem Teppichweber Fritz Riedl.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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