Samuel Benchetrit : Rimbaud und die Dinge des Herzens

Rimbaud und die Dinge des Herzens
Originalausgabe: Le cœur en dehors, 2009 Rimbaud und die Dinge des Herzens Übersetzung: Olaf Matthias Roth Aufbau Verlag, Berlin 2011 ISBN: 978-3-351-03312-5, 254 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der zehnjährige Gymnasiast Charly Traoré lebt mit seinem älteren Bruder Henry und der aus Mali stammenden Mutter in der Banlieue von Paris. Henry ist kaum noch zu Hause; er treibt sich herum und nimmt Drogen. Joséphines Aufenthaltsgenehmigung ist längst abgelaufen; sie arbeitet schwarz als Dienstmädchen bei einem älteren Ehepaar. An diesem Morgen beobachtet Charly, wie sie abgeführt wird. Was hat das zu bedeuten? Er schwänzt die Schule, um Henry zu suchen. Vielleicht kann dieser es ihm erklären ...
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Kritik

Samuel Benchetrit versucht, in "Rimbaud und die Dinge des Herzens" alles aus der Sicht des zehnjährigen Jungen und mit dessen Worten zu schildern. Dabei ist es ihm gelungen, sich in das unkonzentrierte Plappern eines Kindes einzufühlen.
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Charles („Charly“) Traoré ist zehn Jahre alt. In einer der Vorstädte von Paris lebt er mit seinem älteren Bruder Henry und der zweiundvierzigjährigen Mutter Joséphine, die keine Schule besucht hat und sich schwer damit tut, einen Brief zu lesen. Henry wurde 1991 in Mali geboren, bevor die afrikanischen Eltern nach Frankreich zogen. Charly kam am 17. April 1998 in der Banlieue von Paris zur Welt. Einen Monat später verließ der Vater die Familie und kehrte nach Mali zurück.

Er ist einen Monat nach meiner Geburt abgehauen und hat meine Mutter und meinen Bruder so allein im Regen stehen lassen wie die Flügelspieler von Paris Saint-Germain ihre beiden Stürmer. Mich persönlich hat das nicht berührt. Ich war gerade einen Monat alt und dachte bestimmt viel eher an die Milch in den Brüsten meiner Mutter als daran, womit mein Vater wohl seine Zeit verplemperte. Aber für meinen Bruder war das anders. Und meine Mutter ist sich sicher, dass das der Grund ist, weshalb Henry zum Junkie geworden ist und dauernd Scheiße baut. Ich glaube allerdings, dass mein Bruder ein richtiger Idiot ist und dass er Drogen nimmt, um zu vergessen, wie bescheuert er ist. Na ja, da hat wohl jeder seine eigene Theorie. Glauben Sie nicht, ich wäre herzlos, wenn ich so über meinen Bruder rede. Aber ich schwör’s Ihnen, Sie wären an meiner Stelle bestimmt schon in einer Anstalt gelandet. Ich glaube, mein Bruder ist bloß zur Welt gekommen, um mir auf den Sack zu gehen. Entschuldigen Sie, wenn ich es so drastisch formuliere, aber anders lässt es sich nicht ausdrücken. Würde ich jedes Mal, wenn er mir auf die Nerven geht, einen Euro bekommen, dann wäre ich bereits Milliardär. Ich kriege aber nichts und werde umsonst verrückt.

An diesem Morgen, als Charly gerade die Mietskaserne verlässt, um ins Collège Charles Baudelaire zu gehen, fragen ihn zwei Polizisten und eine Polizistin, ob er ihnen sagen könne, in welcher Etage Joséphine Traoré wohnt. Während sie den Lift nehmen, rennt Charly über die Treppen hinauf – und beobachtet, wie seine Mutter abgeführt wird.

Was hat das zu bedeuten? Vielleicht kann sein Bruder es ihm erklären. Also schwänzt Charly die Schule und macht sich auf die Suche nach Henry.

Unterwegs schweifen seine Gedanken ab. Er denkt vor allem an seine Mitschülerin Mélanie Renoir. Beispielsweise erinnert er sich, wie er nach einem Kinobesuch mit seiner Mutter in ein japanisches Restaurant ging und sie vom Kellner an den Nachbartisch von Madame Renoir und ihrer Tochter Mélanie geführt wurden. Charly war schrecklich aufgeregt und wagte kaum aufzusehen, aber plötzlich sprach Catherine Renoir seine Mutter an: Mélanie habe ihr gerade erzählt, dass Charly dieselbe Schule besuche. Dann fragte sie Charly, ob er gern in die Schule gehe und was er werden wolle. Anschließend stellte Joséphine Traoré dem Mädchen die gleichen Fragen. Die Kinder waren allerdings zu schüchtern, um miteinander zu sprechen.

Als Charly an einer öffentlichen Bibliothek vorbeikommt, geht er hinein und blättert in den Büchern von Arthur Rimbaud. Den kleinsten der Bände, „Une saison en enfer“ („Eine Zeit in der Hölle“, 1873) steckt er ein. Er wolle das Buch nicht stehlen, sagt er sich, sondern leihe es nur aus. Das müsse allerdings heimlich geschehen, weil er keinen Bibliotheksausweis besitzt.

Endlich findet er Henry. Nachdem er ihm berichtet hat, was am Morgen geschah, erklärt ihm Henry, dass die Mutter in Abschiebehaft genommen wurde. Sie hatte zwar nach ihrer Einreise eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, aber als der Vater nach Mali zurückkehrte, nahm er alle Papiere mit. Deshalb konnte Joséphine die Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängern lassen und lebte seither illegal in Frankreich. Vor ein paar Monaten ging sie ins Rathaus und schilderte ihre Lage, aber man hatte kein Verständnis für sie und pochte auf Vorschriften.

Joséphine Traoré hielt sich nicht nur verbotenerweise in Frankreich auf, sondern sie arbeitete außerdem seit fünfzehn Jahren schwarz, und zwar als Dienstmädchen für ein wohlmeinendes älteres Ehepaar, für Georges und Sonia Roland. Deren Tochter Nathalie mietete auch die Wohnung für Joséphine und deren Söhne.

Um 16.30 Uhr wartet Charly vor der Schule auf seine Freunde und geht mit ihnen ins Stadion. Er schaut ihnen eine Weile beim Training zu und will dann, wie schon oft, an dem Haus vorbeigehen, in dem Mélanie wohnt. Vor einem der Nachbargrundstücke setzt er sich auf die Bordsteinkante und schaut einem alten Mann zu, der einen Baum auslichtet. Plötzlich taucht Catherine Renoir auf. Charly grüßt höflich. Sie erinnert sich an ihn und lädt ihn ein, Mélanie zu besuchen.

„Mélanie ist zu Hause … Du kannst reinkommen, wenn du magst.“
„Nein, ich möchte sie nicht stören … Ich sehe sie ja in der Schule …“
Ich bin ein Vollidiot.
Ich hätte nur „ja“ zu sagen brauchen, oder gar nichts, hätte einfach nur aufstehen müssen und wäre bei Mélanie gelandet, bei meiner Traumfrau.
„Wie du willst. Sag deiner Mutter schöne Grüße!“

Kurz nachdem Catherine Renoir in ihr Haus gegangen ist, kommt Mélanie heraus und geht mit Charly ein Stück spazieren. Zum ersten Mal reden sie miteinander. Charly erfährt, dass Mélanie mit ihrer Mutter und einer älteren Schwester zusammen in dem Haus wohnt. Der Vater ist schon lange fort. Es ist also ähnlich wie bei ihm. Dass seine Mutter an diesem Morgen von der Polizei abgeholt wurde, wagt Charly nicht zu erzählen. Scham und Angst hindern ihn daran. Zum Abschied lädt Mélanie Charly zu ihrer Geburtstagsfeier in zwei Wochen ein.

Am Abend geht Charly zu Georges und Sonia Roland. Sie haben sich Sorgen gemacht, weil Joséphine zum ersten Mal fortblieb, ohne sie zu benachrichtigen. Statt dem freundlichen Ehepaar die Wahrheit zu sagen, behauptet Charly, seine Mutter sei krank.

„Sie ist krank … Ja, genau. Sie ist echt krank. sie liegt im Bett und hat mindestens fünfzig Grad Fieber.“
„Habt ihr einen Arzt gerufen?“
„Ja, der ist auch gekommen.“
„Und?“
„Er sagt, sie hätte … eine richtige … eine sehr seltene Grippe … Deswegen kann sie auch nicht sprechen … oder anrufen …“
„Die Ärmste!“
„Genau … Sie hat nur für fünf Sekunden die Augen aufgemacht und gesagt: „Charly … Mein Sohn … Geh zu den Rolands … Benachrichtige sie … Und sei nett zu ihnen … sie sind schon sehr alt …“

Charly verbringt den Abend bei den Rolands. Erst gegen 23 Uhr kehrt er in die Mietskaserne zurück, aber statt in der Wohnung schläft er kurz im Keller. Nach weniger als einer Stunde schreckt er hoch. Er geht zum Abschiebegefängnis und hofft, durch ein Gitter mit seiner Mutter sprechen zu können, aber da sind nur Mauern, „mindestens hundert Meter hoch“. Er setzt sich auf eine Stufe vor dem Eingang und schlägt das Buch von Rimbaud auf. Als die Bibliothekskarte herausfällt, liest er überrascht, dass Henry Traoré das Buch im Juli 2003 ausgeliehen hatte.

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Der Ich-Erzähler Charly Traoré, den Samuel Benchetrit in seinem Roman „Rimbaud und die Dinge des Herzens“ auftreten lässt, ist ein zehnjähriger, in der Banlieue von Paris geborener Schwarzer. Wir begleiten ihn einen Tag lang, von 8 Uhr morgens, als seine aus Mali stammende, illegal in Frankreich lebende und arbeitende Mutter von der Polizei festgenommen wird, bis 23.40 Uhr.

Samuel Benchetrit versucht, alles aus der Sicht des zehnjährigen Jungen und mit dessen Worten zu schildern. Dabei ist es ihm gelungen, sich in das unkonzentrierte Plappern eines Kindes einzufühlen. Immer wieder spricht Charly den Leser direkt an.

Was ich Ihnen eigentlich erzählen wollte, ist eine Sache, die sich heute Morgen zugetragen hat. Mann, war das eine Geschichte. Darüber könnte man wahrscheinlich ein richtiges Buch schreiben. So ganz hab ich es zwar noch nicht verstanden, aber ich erzähle es Ihnen vielleicht trotzdem am besten gleich.

Sehen Sie, schon habe ich wieder den Faden verloren. Ich muss mich behandeln lassen. Es kann doch nicht sein, dass man ständig an tausend Dinge gleichzeitig denkt.

Sehen Sie, schon wieder sind meine Gedanken in tausend verschiedene Richtungen geschossen.
Da fällt mir ein: Ich wollte Ihnen ja von Mélanie Renoir erzählen, vor allem aber davon, was mir heute Morgen passiert ist, eine üble Geschichte. Also von wegen der Sache mit Mélanie Renoir sage ich jetzt bloß, dass mich dieses Mädchen regelrecht umhaut und dass wir darüber später weiterreden.
Erst einmal konzentriere ich mich wie verrückt und fange meine Geschichte an. Und die hat es wirklich in sich!
Alles begann heute Morgen, um acht Uhr früh.

Den Roman „Rimbaud und die Dinge des Herzens“ von Samuel Benchetrit gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Leonard Hohm (Bearbeitung: Kirsten E. Lehmann, Schwäbisch Hall 2011, 4 CDs, ISBN 978-3-86974-088-1).

Samuel Benchetrit wurde am 26. Juni 1973 in Champigny-sur-Marne südöstlichen von Paris als Sohn einer Französin und eines Vaters mit ukrainischen und marokkanischen Wurzeln geboren. Mit fünfzehn verließ er das Elternhaus und begann in Paris eine Fotolehre. 2000 erschien sein Debütroman „Récit d’un branleur“, und nachdem er bereits für Kurzfilme Preise gewonnen hatte, kam am 15. Oktober 2003 sein erster abendfüllender Film ins Kino: „Janis et John“. Für „Le cœur en dehors“ bzw. „Rimbaud und die Dinge des Herzens“ wurde Samuel Benchetrit mit dem Prix Populiste ausgezeichnet.

Seine Ehefrau Marie Trintignant wurde während einer Auseinandersetzung mit ihrem Geliebten Bertrand Cantat am 27. Juli 2003 in Vilnius so schwer verletzt, dass sie nicht mehr zu retten war und am 1. August für tot erklärt wurde.

Außer einem von Marie Trintignant geborenen Sohn Jules hat Samuel Benchetrit mit der Schauspielerin Anna Mouglalis zusammen eine Tochter: Saül (* 2007).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Aufbau Verlag

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