Maria Barbal : Wie ein Stein im Geröll

Wie ein Stein im Geröll
Originalausgabe: Pedra de tartera, 1985 Wie ein Stein im Geröll Übersetzung: Heike Nottebaum Nachwort: Pere Joan Tous Transit Buchverlag, Berlin 2007 ISBN: 978-3-88747-221-4, 128 Seiten Taschenbuch: Diana-Verlag, München 2008 ISBN: 978-3-453-35246-9, 190 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Bis zum 13. Lebensjahr lebt Conxa mit ihren Eltern und Geschwistern im Pyrenäendorf Ermita, dann wird sie zu kinderlosen, eine zusätzliche Arbeitskraft benötigenden Verwandten nach Pallarès gebracht. Ohne Widerworte nimmt sie den Verlust der Heimat hin und gewöhnt sich in der neuen Umgebung ein. Sie heiratet und bekommt drei Kinder. Im Spanischen Bürgerkrieg wird ihr Mann von den Falangisten ermordet. Die Kinder gründen schließlich eigene Familien. Conxa bleibt nichts anderes übrig, als zum Sohn nach Barcelona zu ziehen ...
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Kritik

"Wie ein Stein im Geröll" ist in einer wortkargen und schnörkellosen, einfachen und undramatischen Sprache geschrieben. Man kann den erschütternden Roman von Maria Barbal als Biografie lesen, als Panorama des archaischen Lebens in katalanischen Bergdörfern und als politischen Roman.
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Concepció („Conxa“) ist das fünfte von sechs Kindern einer katalanischen Bauernfamilie in dem Pyrenäendorf Ermita.

Meine Mutter war eine Frau, die nur zwei Dinge kannte: arbeiten und sparen.

Weil die Eltern kaum wissen, wie sie sich und die Kinder ernähren sollen, sind sie froh, als Encarnació und Ramon Martí vorschlagen, eines der Mädchen zu übernehmen. Bei Encarnació handelt es sich um eine der drei Schwestern von Conxas Mutter. Ihr Mann ist sehr viel älter als sie, und das kinderlose Ehepaar, das einen Bauernhof in Pallarès betreibt, benötigt dringend eine zusätzliche Arbeitskraft. Die Wahl fällt auf Conxa. Die Dreizehnjährige ist zwar traurig über die Trennung von der Familie und den Verlust der Heimat, fügt sich jedoch widerstandslos und lässt sich von ihrem Vater und ihrer ältesten Schwester nach Pallarès bringen. Einen Tag lang dauert der Fußmarsch.

In den nächsten fünf Jahren sieht Conxa ihre Mutter und ihre älteste Schwester ein einziges Mal beim Patronatsfest in Pallarès, dem Vater und ihrem ältesten Bruder Josep begegnet sie zufällig einmal auf dem Markt in Montsent.

Gefeiert wurde nicht oft in jenen Jahren. Es gab ja so viel Arbeit! Dass es Sonntag war, merkte man nur daran, dass unser Tagwerk später begann, weil wir um sechs Uhr in die Frühmesse gingen. Und auch nur wir Frauen, denn weder der Onkel noch die meisten anderen Männer des Dorfes setzten je einen Fuß in die Kirche.

Jedes Jahr kommen Tomás und Ventura, die Vettern der Tante, aus Barcelona herauf. Anfangs kann Conxa es kaum fassen, dass einer der beiden die Fettränder vom Schinken abschneidet und auf dem Teller liegen lässt. Wenn sie das Geschirr in die Küche bringt, isst sie das Fett heimlich auf.

Es dauert lang, bis die anderen Jugendlichen in Pallarès Conxa als zugehörig akzeptieren. Sie gilt als gute Partie, denn es wird allgemein erwartet, dass sie später einmal den Hof der Tante und des Onkels erben wird. Ihre Pflegeeltern sehen es gern, dass Martí, der zweitälteste Sohn der mächtigen Familie Sebastià, um Conxa wirbt. Doch das Mädchen entscheidet sich für Jaume Ferrer aus Sarri. Er hält um Conxas Hand an. Encarnació und Ramon sträuben sich zunächst gegen die geplante Verbindung, denn Jaume ist bloß Maurer und Schreiner. Allmählich sehen sie jedoch auch die Vorteile: Weil Jaumes älterer Bruder den Hof der Eltern übernehmen wird, ist er in Sarri nicht gebunden, sondern kann mit Conxa in Pallarès leben. Auf diese Weise gewinnen Encarnació und Ramon eine Arbeitskraft, statt eine zu verlieren.

Im Winter 1919/20 heiraten Conxa und Jaume.

Am 18. November 1920 bringt Conxa eine Tochter zur Welt, die auf den Namen Elvira getauft wird. Im Frühjahr und im Sommer 1921 muss sie während der Erntearbeit immer wieder rasch nach Hause, um das Kind zu stillen.

Er [Jaume] sagte: Zuerst kommen die Menschen und dann alles andere. Aber es fiel mir nicht leicht, danach zu handeln, denn man hatte es mir ja genau andersherum beigebracht. Erst wenn die Felder und das Vieh versorgt waren, kamen die Menschen an die Reihe.

Im Gegensatz zu Conxa nimmt Jaume die Gegebenheiten nicht unwidersprochen hin, aber er vermeidet jeden Streit mit der Tante und dem Onkel seiner Frau. Von Frühjahr bis Herbst hilft er tatkräftig in der Landwirtschaft, und im Winter sucht er sich beispielsweise in Montsent Arbeit als Handwerker.

Als Elvira ein Jahr alt ist, merkt Conxa, dass sie erneut schwanger ist. Alle hoffen, dass es diesmal ein Junge wird.

Aus einem Jungen wird einmal ein Mann. Und ein Mann, der ist stark genug, um den Boden zu bestellen, um Vieh zu halten, um ein Haus zu bauen. Aber so ganz leuchtete mir das nicht ein. Wenn ich an die Familien dachte, die ich gut kannte, dann war es die Frau, auf deren Schultern das meiste ruhte. Und dachte ich an uns daheim, dann war es die Mutter, die alle Arbeiten erledigte oder sie beaufsichtigte. Von der Tante einmal ganz abgesehen. Die Frau bringt die Kinder zur Welt und zieht sie groß, sie mäht, kümmert sich um den Stall, die Hühner, die Kaninchen. Sie verrichtet die Hausarbeit und sorgt sich um so viele andere Dinge: den Garten, das Einmachen, das Wursten … Und der Mann? Er war vor allem für die Dinge außerhalb des Hauses zuständig. Wenn es darum ging, eine Kuh zu verkaufen oder jemanden für die Ernte einzustellen. Eigentlich war es gar nicht so klar, dass ein Mann mehr wert war oder mehr leistete, aber immer wieder hieß es: Was ist ein Hof ohne einen Mann? Und ich denke mir: Was ist ein Hof ohne eine Frau?

Angeleta wird am 31. März 1923 geboren.

Jaume legt Wert darauf, dass Elvira in Montsent zur Schule geht und Rechnen und Schreiben lernt, obwohl der Schulweg eineinhalb Stunden lang ist.

1929 wird die Tante von den Vettern zur Weltausstellung nach Barcelona eingeladen, und sie ergreift die Chance, wenigstens einmal in ihrem Leben in die Stadt zu kommen.

Im Herbst 1930 legt der Onkel sich krank ins Bett. Er stirbt am 8. Dezember.

Drei Monate später erhält Conxa die Nachricht vom Tod ihrer Mutter. Zur Beerdigung geht ihre Tante mit ihr nach Ermita.

Von ihrem Mann erfährt sie, dass König Alfons XIII. am 14. April 1931 das Land verlassen hat und die Republik ausgerufen wurde.

Wegen der politischen Unruhen sagen die Vettern 1932 ihren Besuch in Pallarès ab.

Im Frühjahr 1933 wird Conxa von einem Sohn entbunden: Mateu.

Elvira fängt mit dreizehn als Hausmädchen bei der angesehenen Familie Pujalt in Montsent zu arbeiten an.

Jaume schließt sich der Esquerra Republicana de Catalunya an, einer republikanischen Linkspartei, die Katalaniens Ablösung von Spanien anstrebt.

In einem Brief vom 20. Juli 1936 teilt Tomás Olivella seiner Cousine Encarnación mit, dass der Besuch in diesem Jahr wieder nicht stattfinden kann.

Vier Wochen später, am 17. Juli 1936, beginnt im Protektorat Marokko der Militärputsch gegen die spanische Republik.

Die Frau des Bäckers warnt Jaume vor den Falangisten, aber er lehnt es ab, sich zu verstecken, denn sein Gewissen ist rein. Am nächsten Morgen nehmen ihn Soldaten fest. Ein paar Stunden später werden auch Conxa und ihre beiden Töchter Elvira und Angeleta abgeholt. Während sie zusammen mit anderen Frauen auf der Ladefläche eines Lastwagens zunächst nach Montsent und dann in die Kreishauptstadt Noguera ins Gefängnis gebracht werden, bleibt der dreijährige Mateu bei seiner Großtante in Pallarès.

Ich fühle mich wie ein Stein im Geröll. Wenn irgendjemand oder irgendetwas mich anstößt, werde ich mit den anderen fallen und herunterrollen; wenn mir aber niemand einen Stoß versetzt, werde ich einfach hierbleiben, ohne mich zu rühren, einen Tag um den anderen …

In Noguera erfährt Elvira, die Kontakte zu den Wachleuten geknüpft hat, dass ihr Vater inzwischen umgebracht und irgendwo in einem Massengrab verscharrt wurde.

Nach fünfeinhalb Wochen werden die Frauen freigelassen. Zu Fuß kehren sie nach Pallarès zurück.

Während des Zweiten Weltkriegs kündigt Elvira an, sie werde einen Mann in Noguera heiraten, einen Arbeiter in einer Sägemühle. Ihre Großtante prophezeit Unglück und Armut, aber Elvira lässt sich nicht einschüchtern. Conxa möchte sich ihrer Tochter nicht in den Weg stellen, aber sie ist zu erschöpft, um sie gegen die Tante zu unterstützen.

Als Elvira aus dem Haus ist, kommt Conxa sich überflüssig vor. Eines Nachts streift sie ein Trauerkleid über, geht in den Speicher hinauf und klettert über eine alte Wiege aus dem Dachfenster, um sich in die Tiefe zu stürzen, aber die Tante hat etwas gehört, ist ihr gefolgt und hält sie vom Selbstmord ab.

Elvira bringt zunächst einen Sohn und dann eine Tochter zur Welt: Ramon und Rita. Angeleta, die nach Torrent geheiratet hat, wird von einem Sohn namens Agustí entbunden. Während Angeleta auf dem Bauernhof ihres Mannes alle Hände voll zu tun hat, kommt Elvira im Sommer nach Pallarès, um ihrer Großtante, ihrer Mutter und ihrem Bruder zu helfen.

Encarnació liegt eines Morgens tot im Bett. Während der Nacht ist sie friedlich entschlafen.

Einige Zeit später besucht Mateu seine Schwester in Torrent und verbindet das mit einer Brautschau, denn man hat ihm ein Mädchen aus einer weder armen noch reichen Bauernfamilie empfohlen. Die Hochzeit mit Lluïsa wird schließlich in Torrent gefeiert.

Lluïsa bringt ihr erstes Kind nicht zu Hause, sondern in der Klinik von Noguera zur Welt.

Eines Tages eröffnet Mateu seiner Mutter bei einem Besuch in Pallarès, dass er die Landwirtschaft aufgeben wird. Er und Lluïsa haben sich erfolgreich um eine Pförtnerloge in einem siebenstöckigen Mietshaus in Barcelona beworben. Dort bekommen sie eine Wohnung im Hochparterre und zusätzlich ein kleines Gehalt. Da Conxa den Hof der Tante nicht allein weiterführen kann, bleibt ihr nichts anderes übrig, als den Vorschlag ihres Sohnes anzunehmen, mit nach Barcelona zu ziehen.

In der Stadt ist die Milch weiß, dünn und ohne Rahm.

Mein Los war es, dreißig weitere Jahre zu leben, und ich atme immer noch, obwohl ich zu rein gar nichts mehr nutze bin.

Barcelona, das ist für mich etwas sehr Schönes. Die letzte Stufe vor dem Friedhof.

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Eine ungebildete ältere Katalanin erinnert sich und erzählt in der Ich-Form von ihrem harten Leben in zwei Pyrenäendörfern. Im ersten Teil des Buches muss sie ihre Eltern und Geschwister ebenso wie ihren Geburtsort verlassen. Der Mittelteil handelt davon, wie ihr Ehemann von den Falangisten im Bürgerkrieg ermordet wird und sie mit den drei Kindern allein zurückbleibt. Im letzten Abschnitt verliert sie auch ihre Ersatzheimat in den Bergen und zieht in die Großstadt Barcelona. Dort wartet sie seit drei Jahrzehnten auf den Tod.

„Wie ein Stein im Geröll“ ist in einer wortkargen und schnörkellosen, einfachen und undramatischen Sprache geschrieben. Die Entbehrungen gewohnte Ich-Erzählerin Conxa schweift in ihren Erinnerungen nicht ab, sondern folgt der Chronologie der Ereignisse. Dabei konzentriert sie sich auf exemplarische Momente, die sie in vielen kurzen Kapiteln bildhaft skizziert. Vieles bleibt ungesagt. Um starke Gefühle auszudrücken, fehlen ihr die Worte, und ihr Bildungsstand erlaubt keine abstrakten Überlegungen. Dennoch ist die Darstellung vielschichtig und differenziert. Die Erinnerungen sind wehmütig, aber an keiner Stelle larmoyant.

Man kann den erschütternden Roman „Wie ein Stein im Geröll“ von Maria Barbal als Biografie lesen, als Panorama des archaischen Lebens in katalanischen Bergdörfern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und auch als politischen Roman über die Untaten der Falangisten im Spanischen Bürgerkrieg.

Maria Barbal (* 1949) schrieb „Wie ein Stein im Geröll“ nicht in spanischer, sondern in katalanischer Sprache. Es ist ihr Debütroman. Inzwischen gilt er als Klassiker der katalanischen Nachkriegsliteratur.

Den Roman „Wie ein Stein im Geröll“ von Maria Barbal gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Bibiana Beglau (Regie: Hanspeter Krüger, Berlin 2007, 2 CDs, ISBN 978-3-89813-686-0).

Übrigens: Auch der 1992 von Rafael Chirbes veröffentlichte Roman „Die schöne Schrift“ handelt von einer einfachen Spanierin, die von ihrem Leben während des Bürgerkriegs und in den Jahren danach erzählt.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Transit Buchverlag

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"Der schottische Bankier von Surabaya" ist ein spannender Wirtschaftskrimi des kanadischen Schriftstellers Ian Hamilton. In dem gut durchdachten Plot gibt es zwar auch Action und einige wenige brutale Szenen, aber das Lesevergnügen basiert v. a. auf der Raffinesse der geschilderten Verhandlungen.
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