Nicholson Baker : Norys Storys

Norys Storys
Originalausgabe: The Everlasting Story of Nory Random House, New York 1998 Norys Storys Übersetzung: Eike Schönfeld Rowohlt Verlag, Reinbek 2000 ISBN 3-498-00605-3, 320 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eleanor ("Nory") Winslow, die neunjährige Tochter eines amerikanischen Schriftstellers, kommt mit ihren Eltern und ihrem zweijährigen Bruder nach England. Dort befreundet sie sich mit einer Mitschülerin, die von fast allen anderen gehänselt und vors Schienbein getreten wird. Vater und Mutter erzählen Nory vor dem Schlafengehen abwechselnd Geschichten, aber sie denkt sich auch selbst welche aus ...
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Kritik

In dem Roman "Norys Storys" von Nicholson Baker erleben wir ein kluges, gutmütiges und heiteres neunjähriges Mädchen, das sich fantasievolle Geschichten ausdenkt und sich ein Bild von der Welt macht.
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Eleanor Winslow war ein neun Jahre altes Mädchen aus Amerika mit braunem Pony und braunen Augen. Sie interessierte sich für Zahnmedizin oder wollte dereinst Papieringenieurin werden, wenn sie groß war. Ein Papieringenieur ist ein Künstler, der Ausklappbücher und Ausklappgrußkarten entwirft, bei denen es wahnsinnig wichtig ist, dass sie immer leicht in Geschäften erhältlich sind, weil sie die Menschen glücklicher machen. (Seite 7)

So beginnt Nicholsen Baker seinen Roman „Norys Storys“.

Eleanor („Nory“) Winslow wurde in Boston, Massachusetts, geboren. Als sie ein Jahr alt war, zogen die Eltern mit ihr nach Palo Alto, Kalifornien. Getauft wurde sie während eines dreiwöchtigen Aufenthalts im Alter von drei Jahren in Venedig. Jetzt ist sie neun und kam gerade mit ihren Eltern und ihrem zweijährigen Bruder Littleguy – eigentlich heißt er Frank Wood Winslow – nach Threll in England. In der Schule befreundet sie sich zunächst mit einem Mädchen namens Kira, und nach einiger Zeit, sehr zum Missfallen von Kira, mit der von allen bis auf Roger Sharpless gehänselten Außenseiterin Pamela Shavers.

Vater und Mutter erzählen Nory vor dem Schlafengehen abwechselnd Geschichten, aber sie denkt sich auch selbst welche aus, etwa über ihr Lieblingsstofftier, den Waschbären Sarah Laura Maria („Coochie“) oder über ein ungefähr gleichaltriges Mädchen namens Mariana, das in der Wüste Sahara in kochenden Regen gerät.

Eines Abends sahen sie einen Pianisten im Fernsehen, Norys Mutter, Norys Vater und Nory, weil, als Nory ihre Freundin Kira angerufen hatte, sagte die: „Du musst dir diesen großartigen Klavierwettbewerb ansehen.“ Littleguy spielte gerade mit James, der roten Lok. Einer der Leute in dem Wettbewerb schlug das Klavier so hart an, dass er auf dem Daumenrücken einen roten Fleck bekam. Er war aus Jugoschlawien. Nory sah es und sagte: „Er hat sich weh getan.“
„Ach, ich glaube, das ist nur ein Schatten“, sagte Norys Vater.
Aber das stimmte nicht. Auf den Klaviertasten waren kleine Blutflecken. Dann musste der Nächste spielen. Das muss man sich mal vorstellen, der setzt sich hin und sieht die ganzen Marienkäfer aus Blut auf dem Klavier. Wegwischen kann er sie nicht, weil das Wegwischen ein hässliches Geräusch machen würde, und das würden sich die Richter genau merken, weil es das Erste gewesen wäre, was er gespielt hätte, und dann würde er eine schlechte Note kriegen. Seine Augen würden von dem Blut abgelenkt werden, und dann würde er vielleicht noch mehr Fehler machen […] Es war traurig, an die Leute bei dem Wettbewerb zu denken, die ihr ganzes Leben lang so hart übten und dann trotzdem verloren. (Seite 60f)

Nory denkt auch über die Welt, das Leben und das Erwachsenwerden nach.

Jeder Mensch leistet einen Beitrag zu dieser Welt. Manche Leute machen zum Beispiel Backsteine, und manche machen Schokokuchen. Manche erfinden einen neuartigen kräftigen Klebstoff oder vielleicht eine Marionette, die mit Magneten funktioniert. Oder sie tun die kleinen herumwirbelnden Kugellagerkugeln in die Trillerpfeifen. Manche leisten natürlich einen größeren Beitrag als andere. Norys Beitrag sollte sein, dass sie Zahnärztin werden und den Menschen mit ihren Zähnen helfen würde. Der Beitrag von Norys Mutter war, dass sie Nory und Littleguy alles beibrachte, auch, dass es wichtig ist, ehrlich zu sein und andere nicht zu verletzen. Der Beitrag von Norys Vater war, Bücher zu schreiben, die den Leuten beim Einschlafen halfen. (Seite 150)

Nory glaubt zwar nicht so unerschütterlich an das Gute wie ihre Mutter, aber sie ist zufrieden und zuversichtlich:

Die Dinge entwickelten sich also ziemlich gut. Ganz zu schweigen davon, dass Nory zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einen wunderbaren Wackelzahn hatte. Wenn sie ihn über eine bestimmte Position hinausbog, konnte sie die scharfe Kante spüren, die normalerweise vom Zahnfleisch verdeckt war, und sie hatte einen deutlich salzigen Blutgeschmack im Mund. (Seite 320)

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Vorbild für Nory war Alice, eines der beiden Kinder des amerikanischen Schriftstellers Nicholson Baker (*1957). Ihr hat er den Roman gewidmet. Nory erinnert uns aber auch an „Alice im Wunderland“. Im Klappentext heißt es, Nory würde uns ihre Geschichten erzählen. Das stimmt jedoch nicht. Nicholson Baker hat „Norys Storys“ nicht in der ersten Person Singular geschrieben und tut auch nicht so, als würde Nory zu uns sprechen. Stattdessen lässt er einen nicht näher greifbaren Erzähler auftreten, der Norys Storys wiedergibt, ohne die kindlichen Vorstellungen zu sehr zu verändern. So erleben wir ein kluges, gutmütiges und heiteres neunjähriges Mädchen, das sich fantasievolle Geschichten ausdenkt und sich ein Bild von der Welt macht, in dem Wichtiges noch nicht von Unwichtigem getrennt ist.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Rowohlt

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