Dorothy Baker : Zwei Schwestern

Zwei Schwestern
Originalausgabe: Cassandra at the Wedding, 1962 Cassandra auf der Hochzeit Übersetzung: Günther Huster Krüger-Verlag, Hamburg 1965 Zwei Schwestern Übersetzung: Kathrin Razum Nachwort: Peter Cameron dtv, München 2015 ISBN: 978-3-423-28059-4, 280 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein Leben ohne ihre Zwillingsschwester Judith kann Cassandra sich nicht vorstellen, zumal sich der Vater kurz nach ihrer Geburt mit den Angehörigen auf einer Ranch isolierte. Gemeinsam zogen die Zwillingsschwestern noch zum Studieren nach Berkeley, aber vor dem Abschluss brach Judith aus der Symbiose aus, wechselte allein an eine Hochschule in New York und will nun einen Arzt heiraten, den sie dort kennenlernte. Cassandra ist durch die Abnabelung ihrer Schwester in eine existenzielle Krise geraten ...
mehr erfahren

Kritik

"Zwei Schwestern" ist ein mit­reißen­der, meisterhaft komponierter Roman. Dorothy Baker lässt die beiden Hauptfiguren abwechselnd in der Ich-Form zu Wort kommen und verzichtet auf objektive Erläute­run­gen. Das psychische Drama erschließt sich aus Dialogen und inneren Monologen.
mehr erfahren

Judith („Judy“) und Cassandra („Cassie“) Edwards sind eineiige Zwillinge und im Aussehen kaum voneinander zu unterscheiden.

Ich [Cassandra] war aus Prinzip schlampig, damit Judith hübsch sein konnte, aber dann vergaßen die Leute, welche die Hübsche war, und mussten wieder nachfragen. Und wir mussten es ihnen sagen. Äußerst ermüdend.

Die Eltern achteten von Anfang an darauf, dass die Töchter unterschiedliche Kleidung trugen, denn sie sollten sich zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln. Kurz nach der Geburt der Zwillinge gab der Vater James („Jim“) Murray Edwards seine Philosophie-Professur in Cambridge/Massachusetts auf und zog sich mit der Familie auf eine Ranch in der Nähe von Bakersfield/Kalifornien zurück. Seither macht er sich Notizen für ein Buch über die pyrrhonische Skepsis. Vorwiegend denkt und trinkt er.

Warum muss Papa das einsame Trinken auf einer Ranch den institutionalisierten Belanglosigkeiten des Universitätslebens vorziehen?

Die Mädchen besuchten zwar die Grundschule und die Highschool in Putnam, aber die Familie blieb auf der Ranch unter sich. Jane Edwards, die Mutter, war Schriftstellerin. Sie starb vor knapp drei Jahren an Lungenkrebs. Als die Töchter nach Berkeley zogen, um zu studieren, blieb Jim Edwards mit seiner Schwiegermutter Rowena Abbott auf der fünf Autostunden entfernten Ranch zurück.

Die Schwestern teilten sich ein Zimmer mit einem Bösendorfer-Flügel, der ihnen gemeinsam gehörte. Judith wählte Musik als Studienfach, Cassandra, die eigentlich Schriftstellerin hätte werden wollen, wenn ihre Mutter das nicht schon gewesen wäre, strebte eine Berufstätigkeit als Lehrerin an. Aus dem Plan, nach dem Studienabschluss gemeinsam in Paris zu leben, wurde nichts, denn vor neun Monaten zog Judith ohne ihre Schwester nach New York und schrieb sich an der Juilliard School ein.

Seither lässt Cassandra sich von der Psychotherapeutin Vera Mercer behandeln. Die hat sie immerhin bisher davon abgehalten, von der Golden Gate Bridge zu springen.

Jetzt – die Zwillinge sind inzwischen 24 Jahre alt – beabsichtigt Judith, den angehenden Arzt John („Jack“) Thomas Finch zu heiraten, den Cassandra noch gar nicht kennt. Wegen der bevorstehenden Familienfeier legt Cassandra ihre Examensarbeit beiseite und fährt erstmals nach über einem Jahr wieder nach Hause.

Als sie einen Tag früher als angekündigt auf der Ranch eintrifft, ist ihr Schwager, dessen Namen sie sich nicht merken kann, nicht da. Judith und John Thomas Finch kamen fünf Tage zuvor mit dem Flugzeug aus New York, aber vor der Hochzeit ist der junge Mediziner noch rasch nach Los Angeles geflogen, um sich am University Hospital für die Stelle eines Assistenzarztes zu bewerben.

Während Judith mit ihm telefoniert und mit ihm vereinbart, dass sie ihn am nächsten Tag in Bakersfield vom Flughafen abholt, lauscht Cassandra am Apparat auf dem Nachttisch ihrer Großmutter heimlich und hört zum ersten Mal die Stimme ihres Schwagers.

Obwohl Cassandra seit dem Morgen nichts gegessen hat, mag sie auch am Abend noch nichts. Seit sie allein ist, hat sie stark abgenommen. Judith macht sich deshalb Sorgen.

„Ich hätte gern, dass Jack dich mal in Augenschein nimmt, wenn er wieder da ist.“ „Du verwechselst da was“, sagte ich. „Ich werde ihn in Augenschein nehmen.“

Rowena möchte das Kleid sehen, dass Cassandra sich für die Hochzeit ihrer Schwester auf Kosten ihrer Großmutter kaufte. Judith ist ebenfalls dabei, als Cassandra es aus dem Seidenpapier nimmt. Es stellt sich heraus, dass es genauso aussieht wie das Hochzeitskleid. Obwohl die beiden Zwillingsschwestern in verschiedenen Städten einkauften, wählten sie das gleiche Modell. Für Cassandra beweist das wieder einmal, dass sie und Judith zwei Hälften einer Einheit sind.

Am nächsten Morgen kommt Cassandra verkatert zu ihrer Großmutter in die Küche. Judith und der Vater schlafen noch. Am Abend zuvor tranken auch sie weit mehr Cognac, als ihnen gut getan hätte. Rowena wundert sich, als Cassandra ankündigt, sie werde anstelle ihrer Schwester nach Bakersfield fahren und Jack abholen.

Rowena missfällt, dass die Eheschließung im Familienkreis und ohne Gäste stattfinden soll, aber sie konnte sich nicht gegen die Braut und ihren Schwiegersohn durchsetzen.

„Judy will, dass wir unter uns bleiben: du, Jim, ich, Jack und sie. Aber ich finde, das Ganze auf uns zu beschränken, wäre eine Brüskierung der Menschen.“

Beinahe hätte Cassandra gesagt, dass es nicht ratsam wäre, Leute zu einer Hochzeit einzuladen, die gar nicht stattfinden wird. Immerhin erzählt sie ihrer Großmutter, dass sie und Judith am Vorabend beschlossen hätten, zusammen zu bleiben:

„Weißt du, du hast recht mit uns – mit dem, was du immer über uns gedacht hast, dass wir nicht mit aller Macht versuchen sollten, getrennte Wege zu gehen; wir haben das jetzt begriffen – es ist unmöglich. Wir können es nicht.“

Rowena hört nicht richtig zu oder will nicht verstehen, was ihre Enkelin damit sagen möchte. Judith stellt dann im Vier-Augen-Gespräch mit ihrer Schwester klar, dass sich nicht zuletzt aufgrund des Alkoholkonsums ein Missverständnis ergeben hat. Weil Judith anbot, ihr Kleid umzutauschen, nahm Cassandra an, dass sie die Hochzeit absagen werde, und Judith ließ sie zunächst aus Mitleid in dem Glauben, widersprach auch nicht, als Cassandra vorschlug, an ihrer Stelle zum Flughafen zu fahren und Jack die Nachricht zu überbringen. Nun, am nächsten Morgen, versucht Judith, alles wieder geradezurücken.

„Nein“, sagte sie [Judith], „ich meine, es geht nicht, dass du ihn abholen fährst. Das muss ich machen.“ „Nein“, sagte ich [Cassandra]. „Ich mach das schon. Ich bin wieder auf dem Damm, oder jedenfalls bin ich es bis dahin wieder.“ „Nein“, sagte Judy. „Ich sehe das anders. Das ist alles völlig verrückt. Ich habe darüber nachgedacht. Ich muss das selbst machen.“ „Gestern Abend warst du da aber noch anderer Ansicht“, sagte ich.

Und weil Cassandra nicht begreifen will, dass sie sich falsche Hoffnungen gemacht hat, fügt Judith unmissverständlich hinzu:

„Ich werde nicht zulassen, dass du ihn abholst.“

Daraufhin schlägt Cassandra vor, zu zweit nach Bakersfield zu fahren.

„Nein“, sagte sie [Judith]. „Ich möchte lieber allein fahren. Ich weiß nicht, warum ich je etwas anderes gesagt habe. Ich kann mir nicht erklären, wie das passieren konnte. Alles.“

„Dann sag du ihm, wie es steht, wenn ich es schon nicht tun soll – dass wir hier etwas sehr Kostbares haben und es unverantwortlich von uns wäre, es einfach zu verschleudern. Wir müssen uns selbst und der Lebensweise, die für uns stimmig ist, treu bleiben, ganz egal, wie das für sonstwen sonstwo aussehen mag. Das ist dir doch klar, oder?“

Cassandra klagt darüber, wie einsam sie in den letzten neun Monaten gewesen sei, aber Judith hält ihr vor, nicht gemerkt zu haben, wie sie sich fühlte, als sie noch zusammen wohnten:

„Ich war da auch einsam.“ „Was? Wann denn?“, fragte ich umso leidenschaftlicher. Sie überraschte mich immer wieder. Sie wartete einen Augenblick und sagte dann: „Die ganze Zeit, solange wir dort gewohnt haben. Du bist nach Hause gekommen, hast gebadet, dich umgezogen, das Auto genommen, und dann warst du die ganze oder zumindest die halbe Nacht weg. Deshalb bin ich auch zu einer ganz guten Musikerin geworden: Ich hatte viel Zeit zum Üben, während ich darauf gewartet habe, dass du heimkommst.“

Schließlich fragt Judith ihre Schwester, ob diese sie tatsächlich an der Eheschließung hindern wolle, und Cassandra erwidert:

„Niemand ‚hindert‘ hier irgendjemanden. Es geht darum zu erkennen, was bestimmte Dinge wert sind. Ich würde dich niemals an etwas hindern wollen, denn ich gehe nicht davon aus, dass das nötig ist.“

Judith spielt inzwischen mit dem Gedanken, die Hochzeit auf den nächsten Tag vorzuziehen.

„Wir wollten es eigentlich am Freitag machen, aber jetzt denke ich schon die ganze Zeit, warum nicht morgen? Wir brauchen nicht mal eine Kirche, denn – hab ich dir das gestern Nacht gesagt? – ich spüre, also, vielleicht ist das ja verrückt, aber es ist einfach so, dass ich gern in Janes Schreibklause heiraten würde.“

Cassandra spricht zornig vom „obszönen Mutter-Ambiente“.

Diesmal war ich es, die Schweigen hervorrief. Ich spürte, wie sich das Polster der Liege bewegte, als Judith aufstand. Ich hörte sie nicht weggehen, aber das lag daran, dass sie barfuß war. Ich lag flach auf dem Bauch, ließ sie gehen und hörte, wie die Tür hinter ihr zufiel […]. Sie knallte sie nicht einmal zu.

Kurz darauf erfährt Cassandra, dass ihre Schwester bereits mit dem Wagen ihres Vaters unterwegs ist, um Jack vom Flughafen abzuholen.

Cassandra nimmt ein Bad. Nachdem sie sich abgetrocknet und gekämmt hat, füllt sie ein Glas mit Wasser, geht in ihr Zimmer, schluckt sowohl zwei Beruhigungs- als auch sieben Schlaftabletten und legt sich aufs Bett.

Judith holt Jack ab und versucht ihn in einem Café am Flughafen auf ihre schwierige Schwester vorzubereiten.

„Aber du wolltest doch unbedingt, dass deine Schwester Trauzeugin ist und dein Vater dich zum Altar führt, und dass das Ganze in der Schreibklause deiner Mutter stattfindet.“

Spontan fragt Judith, ob Jack die Heiratspapiere bei sich habe, und als er sie ihr zeigt, schlägt sie vor, sich auf der Stelle in Bakersfield trauen zu lassen. Dann könnten sie bereits am nächsten Tag nach New York zurückfliegen. Statt Kuchen und Champagner zu kaufen, fahren die beiden zum Rathaus, und auf der Rückfahrt zur Ranch sind sie bereits ein Ehepaar. Selbstverständlich machen sie sich Sorgen darüber, wie Rowena, Jim und Cassandra auf die Überraschung reagieren werden.

Als sie sich der Ranch nähern, beobachten sie, wie Rowena versucht, von außen durchs Fenster in das Zimmer der Enkelinnen zu spähen. Dass dies Jacks erster Eindruck von ihrer Großmutter ist, missfällt Judith.

„Ich stamme außerdem aus einer Familie von Voyeuren“, sagte ich. „Lass uns so tun, als hätten wir sie nicht gesehen.“ „Also gut“, sagte Jack. „Ich werde keine Anzeige erstatten. Sie wird da schon noch herauswachsen.“

Judith stellt Jack ihrer Großmutter vor – „mein Mann, Dr. Finch“ – aber Rowena bemerkt nichts, vielleicht denkt sie auch, die Braut übe für später. Besorgt sagt sie, Cassandra habe sich kurz nach Judiths Abfahrt im Zimmer eingeschlossen und sei nicht wieder herausgekommen. Judith klopft, aber von ihrer Schwester ist nichts zu hören. Daraufhin öffnet Judith das Türschloss mit einer Haarnadel. Cassandra liegt im Bett und scheint fest zu schlafen. Erst nach einer Weile bemerkt Judith die Arzneifläschchen auf dem Nachttisch. Da begreift sie, dass ihre Schwester Tabletten geschluckt hat und ruft nach Jack.

Sobald er die Situation verstanden hat, trägt er Judith auf, die Apotheke anzurufen und zu fragen, um welche Medikamente es sich handeln könnte. Weil der Anschluss besetzt ist, lässt Judith sich mit Dr. Vera Mercer in Berkley verbinden und fragt, welche Arzneimittel die Therapeutin ihrer Patientin verschrieben habe. Die Psychiaterin vermutet, dass Cassandra Nembutal genommen hat. Als Judith zurückkommt, hat ihr Mann ihre nackte Schwester halb aus dem Bett gezogen, und zwar mit dem Kopf nach unten und den Haaren auf dem Boden. Wie ein Vampir beugt er sich über sie und presst seinen Mund auf den ihren. Mit einem Arm hält er sie, und mit der anderen Hand drückt er ihr die Nase zu. Judith trägt er auf, von ihrer Großmutter eine Kanne starken Tee kochen zu lassen. Ein paar Scheiben verkohltes Toastbrot benötigt er als Ersatz für medizinische Kohle. Außerdem soll Judith fragen, ob Magnesiumhydroxid im Haus ist und aus dem nächsten Krankenhaus ein Atemgerät mit einer Sauerstoffflasche anfordern.

Als Jim Edwards mitbekommt, dass Cassandra einen Selbstmordversuch unternahm, meint er, dass Judith ihre Hochzeit aufschieben werde.

Abends fährt ein Taxi vor. Vera Mercer steigt aus. Sie hat sich nach Judiths Anruf sofort mit einer Privatmaschine nach Putnam fliegen lassen.

Nachdem sie erfahren hat, dass ihre Patientin voraussichtlich überleben wird, löst sie Jack an deren Bett ab und übernimmt sozusagen die Nachtschicht. Die unerwartete Wendung ermöglicht es dem Brautpaar, die Hochzeitsnacht ungestört in Jane Edwards‘ Schreibklause zu verbringen.

Im Verlauf der Nacht kommt Cassandra allmählich wieder zu sich und wundert sich über die Anwesenheit ihrer Therapeutin.

Es war überall das Gleiche. Die Ärztin dort in ihrem Sessel – warum war sie hier? Um ihre Investition zu schützen, um sicherzustellen, dass ich sie nicht blamierte, indem ich starb. Überall das Gleiche, wohin ich nur je geblickt hatte. Jede Menge Sicherheit, sehr wenig Risiko. Hauptsache, nichts gefährdet die schickliche Heirat, die moderne Karriere, die zahnlose Examensarbeit, die nichts Neues und nichts Wahres enthält. So macht man das. Man schwimmt mit. Alle außer Papa, der die Skeptiker und Five-star-Hennessy bevorzugt.

Vera Mercer berichtet ihr von dem jungen Arzt, der ihr das Leben gerettet hat.

Sobald Cassandra dazu in der Lage ist, schmiedet sie Pläne für die Hochzeit ihrer Schwester.

Die Planung übernahm zum größten Teil ich, natürlich mit Judy zusammen; das heißt, ich sagte ihr, wie alles gemacht werden musste. Es musste richtig gemacht werden. Das hieß zuerst einmal, Vera Mercer ins nächste Flugzeug zu setzen, denn sie wäre ein dröger Hochzeitsgast. Dann den Champagner und die Torte besorgen, uns ans Telefon hängen und Gäste einladen. Schließlich ist Granny hier in der Gegend eine wichtige Person – wir sollten uns bemühen, ausnahmsweise mal etwas so zu tun, wie sie es gern hätte. Laden wir also Kate und Sarah und Hannah ein und auch die Frauen aus ihrer Diskussionsgruppe, dem Current Topics Club – und deine erste Musiklehrerin und unseren alte Schwimmtrainer, sofern er nicht inzwischen ertrunken ist, und Conchita und Tomás samt Verwandtschaft und wen wir sonst noch so alles auftreiben können, und feiern wir in der Kirche. Beide in unserem Zwillingskleid, wo wir es nun schon haben und Granny sich so freuen würde, uns nach ihrer vierundzwanzigjährigen Kampagne endlich gleich angezogen zu sehen.

Cassandra bringt Vera Mercer zum Flughafen. Die kirchliche Trauung ist für den nächsten Tag, mittags um 12 Uhr, angesetzt.

„Zu Wagner kommst du herein. Und zu Mendelssohn gehst du raus.“

Niemand ahnt, dass das vor dem Altar stehende Paar bereits verheiratet ist.

Ich steckte mein Ansteckbukett in den Abfalleimer in der Sakristei, und Judy warf mir den Brautstrauß zu. Ich hätte ihn fangen können, das hätte jeder hingekriegt, aber mir gelang es, ihn nicht zu fangen, sodass er im Abfalleimer landete und ich ihn Judy wieder reichte.

Zurück an der San Francisco Bay, geht Cassandra auf die Golden Gate Bridge. Nachdem ihr eine Socke zwei-, dreimal heruntergerutscht ist, schlüpft sie aus dem Schuh, zieht die Socke aus und wirft sie über die Brüstung.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Wie findet man zu sich selbst und wie führt man ein eigenständiges Leben, wenn man von einer eineiigen Zwillingsschwester bzw. einem eineiigen Zwillingsbruder von Geburt an gespiegelt wird? Die 24-jährige Cassandra kann sich ein Leben ohne ihre Zwillingsschwester Judith gar nicht vorstellen, zumal sich der Vater kurz nach ihrer Geburt mit den Angehörigen auf einer Ranch isolierte, die Mutter früh starb und außer der Großmutter niemand in der Familie einen Freundeskreis hat. Gemeinsam zogen die Zwillingsschwestern noch zum Studieren nach Berkeley, aber vor dem Abschluss brach Judith aus der Symbiose aus, wechselte allein an eine Hochschule in New York und will nun einen Arzt heiraten, den sie dort kennenlernte. Cassandra ist durch die Abnabelung ihrer Schwester in eine existenzielle Krise geraten.

Davon erzählt Dorothy Baker in ihrem Roman „Zwei Schwestern“. Die eigentliche Handlung erstreckt sich lediglich über wenige Tage, aber aus Erinnerungen der Hauptfiguren erfahren wir auch etwas über die Vorgeschichte. Gegliedert ist das Buch in drei Kapitel. Im mittleren Teil tritt Judith, die ruhigere der beiden Schwestern, als Ich-Erzählerin auf, in den beiden anderen Abschnitten hören wir Cassandra. Die gesamte Darstellung ist also subjektiv gefärbt. Es gibt weder objektive Beschreibungen noch einen auktorialen Erzähler, der etwas erläutert oder sachlich kommentiert. Stattdessen erschließt sich das psychische Drama aus Dialogen und inneren Monologen. Dass vieles erst einmal nur angedeutet wird, nährt die Neugier des Lesers und sorgt für Spannung. „Zwei Schwestern“ ist eine mitreißende Lektüre. Dafür sorgen auch ein hohes Tempo (vor allem in den Abschnitten, in denen wir der verzweifelten Cassandra zuhören) und ein meisterhaft komponierter Rhythmus. Im Text funkeln immer wieder Witz und Ironie. Überhaupt ist „Zwei Schwestern“ trotz des ernsten Themas und tragischer Wendungen ein leicht zu lesender, unterhaltsamer Roman.

Dorothy Baker ist wie eine Profi-Jongleurin, die alle ihre Teller und Bälle mit atemberaubender Kontrolle und Stilvermögen in der Luft hält. (Peter Cameron im Nachwort)

Den Roman „Zwei Schwestern“ von Dorothy Baker gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Birgit Minichmayr (ISBN 978-3-86231-594-9).

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Don Winslow - Missing. New York
Statt mit Action beeindruckt Don Winslow in dem Kriminalroman "Missing. New York" mit einem intelligenten Aufbau, unerwarteten Wendungen und einer klaren Sprache, in der immer wieder Sarkasmus und Sprachwitz aufblitzen.
Missing. New York