Paul Auster : Unsichtbar

Unsichtbar
Originalausgabe: Invisible Henry Holt, New York 2009 Unsichtbar Übersetzung: Werner Schmitz Rowohlt Verlag, Reinbek 2010 ISBN: 978-3-498-00081-3, 316 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

New York 1967. Rudolf Born bietet dem Literaturstudenten Adam Walker überraschend an, eine Literaturzeitschrift zu finanzieren. Bevor das Projekt realisiert wird, erlebt Adam, dass der kultivierte Politologie-Professor auch abscheuliche Seiten hat, und er trennt sich von ihm. Bald darauf trifft er ihn in Paris wieder und lernt nicht nur die Frau kennen, die Born heiraten will, sondern auch deren Tochter. Darüber berichtet er in einem Manuskript, das er 2007 seinem früheren Kommilitonen Jim Freeman schickt ...
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Kritik

In seinem Roman "Unsichtbar" lässt Paul Auster drei Figuren aus ihren subjektiven Perspektiven berichten. Durch diese klug durchdachte Konstruktion schiebt sich der Vorgang des literarischen Erzählens ins Zentrum.
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Adam wurde im März 1947 in Westfield, New Jersey, als Sohn von Joseph und Marjorie Walker geboren. Als der jüdische Großvater Walshinksky 1900 in die USA eingewandert war, hatten die Behörden seinen Namen in „Walker“ geändert. Dreißig Jahre lang arbeitete er als koscherer Metzger in New York. Sein Sohn betreibt dort inzwischen einen Supermarkt. Joseph und Marjorie Walker bekamen drei Kinder: Adams eineinhalb Jahre ältere Schwester Gwyn studiert am Vassar College in Poughkeepsie, New York. Sein Bruder Andy ertrank am 10. August 1957 im Alter von sieben Jahren im Echo Lake, einem kleinen See in New Jersey. Dort hatte Joseph Walker 1949 ein Sommerhaus erworben. Als Marjorie mit Andy den letzten Sommer vor dem geplanten Verkauf des Grundstücks am Echo Lake verbrachte, fand sie eines Morgens um 6 Uhr einen Zettel von ihm: „Liebe Mom ich bin im Seh viele Grüse Andy“ (Seite 114). Er war schwimmen gegangen und dabei ertrunken. Marjorie Walker kam über den Tod ihres jüngsten Kindes nicht hinweg und musste einige Zeit in einer Nervenheilanstalt behandelt werden. Adam leidet auch zwanzig Jahre später noch an den Erinnerungen:

Du willst nicht daran denken. Du bist jetzt fortgelaufen, und du hast nicht den Mut, in jenes Haus der Schreie und des Schweigens zurückzukehren, das Wehklagen deiner Mutter im Schlafzimmer oben zu hören, wieder einmal den Medizinschrank zu öffnen und die Flaschen mit Tranquilizern und Antidepressiva zu zählen, an die Ärzte, die Zusammenbrüche, den Selbstmordversuch und den langen Klinikaufenthalt zu denken, als du zwölf Jahre alt warst. Du willst dich nicht an die Augen deines Vaters erinnern, wie sie jahrelang einfach durch dich hindurchzusehen schienen, und auch nicht an seinen roboterhaften Tagesablauf vom morgendlichen Aufstehen um Punkt sechs bis zu seiner Rückkehr von der Arbeit niemals vor neun Uhr abends und nicht an seine Weigerung, dir oder deiner Schwester gegenüber den Namen seines toten Sohnes zu erwähnen. (Seite 114f)

Bei einer Party im Frühjahr 1967 wird Adam Walker, der seit zwei Jahren an der Columbia University in New York Literatur studiert, von einem Unbekannten angesprochen. Es handelt sich um den sechsunddreißigjährigen Politologen Rudolf Born, der seit September 1966 ein Jahr als Gastprofessor an der zur Columbia University gehörenden School of International and Public Affairs lehrt und aus Paris kommt. Seine Eltern waren Schweizer; der Vater sprach französisch, die Mutter deutsch. Der Name des Fremden erinnert Adam an Bertran de Born, einen provenzialischen Troubadour im 12. Jahrhundert, den Adam aus dem 28. Gesang der Göttlichen Komödie von Dante Alighieri kennt. Dort, im achten Höllenkreis, trägt Bertran de Born seinen abgeschlagenen Kopf wie eine Laterne vor sich her.

Begleitet wird Rudolf Born von einer Frau namens Margot Jouffroy, deren Alter Adam auf Ende zwanzig, Anfang dreißig schätzt. Während die beiden Männer unter anderem über den Vietnam-Krieg diskutieren, sagt sie kaum ein Wort.

Zwei Tage später treffen sich Adam Walker und Rudolf Born in einer Kneipe wieder. Der Politologie-Professor schlägt dem Studenten vor, eine Literaturzeitschrift zu gründen und erklärt sich bereit, das Unternehmen zu finanzieren. Adam, er davon träumt, Dichter zu werden, nimmt das ebenso überraschende wie faszinierende Angebot an und lässt sich von seinem neuen Mäzen zur Feier der Abmachung einladen. An diesem Abend sieht er auch Borns Lebensgefährtin Margot wieder, die sich für die Dauer des Aufenthalts in New York an der School of the Arts eingeschrieben hat. Born ist schlecht gelaunt, er tobt, betrinkt sich und provoziert Adam mit der Frage, ob er gern mit Margot schlafen wolle.

Kurz darauf hat Born eine Woche in Europa zu tun. Margot ruft Adam an und lädt ihn ein, zu ihr zu kommen. Er besucht sie an jedem der Abende, an denen ihr Lebensgefährte fort ist, und sie haben eine ebenso kurze wie heiße Affäre.

Nach seiner Rückkehr aus Europa bedankt Born sich bei Adam, weil dieser ihm die Augen über Margots Untreue geöffnet habe. Er war zwei Jahre lang mit ihr zusammen. Jetzt hat er sich von ihr getrennt. Vermutlich ist sie nach Paris zurückgekehrt. Born wiederum hat sich in Paris mit einer fünf oder sechs Jahre älteren Frau verlobt, die allerdings noch verheiratet ist: Hélène Juin. Ihr Ehemann, ein Freund Borns, liegt seit einem schweren Autounfall vor sechs oder sieben Jahren im Koma.

Wie vereinbart, erhält Adam von Born einen ersten Scheck für die Gründung der Zeitschrift „stylus“.

Bei einem gemeinsamen Spaziergang im Riverside Park werden sie von einem afroamerikanischen Jugendlichen überfallen. Mit vorgehaltener Pistole verlangt dieser ihre Uhren und Brieftaschen. Born greift in sein Jackett, aber statt der Brieftasche holt er ein Springmesser heraus und rammt es dem Kleinganoven in den Bauch. Adam befürchtet, dass der Schwerverletzte stirbt, aber Born rät ihm, mit ihm zu verschwinden. Darauf lässt Adam sich nicht ein: Er rennt zu einer Telefonzelle und alarmiert den Rettungsdienst. Als er zu der Stelle zurückkehrt, an der sie überfallen wurden, sind Born und der Dieb fort.

Aufgebracht zerreißt Adam den Scheck und schickt Born die Fetzen in einem Umschlag.

Aus der Zeitung erfährt er, dass im Riverside Park die Leiche des achtzehnjährige Afroamerikaners Cedric Williams aufgefunden wurde. Man hatte ihn mit mehr als einem Dutzend Messerstichen getötet.

Ende Mai, sechs Tage nach dem Auffinden des Toten, geht Adam zur Polizei und gibt zu Protokoll, was an dem Abend im Riverside Park geschah. Um Rudolf Born zu verhaften, ist es jedoch zu spät: Er hat die USA bereits verlassen.

Der Kommilitone, mit dem Adam sich ein Apartment teilt, zieht nach dem Examen fort. Da trifft es sich gut, dass Gwen Walker, die an der Anglistischen Fakultät der Columbia University promovieren möchte, eine Wohnung in New York sucht. Sie zieht Mitte Juni bei ihrem Bruder ein, der vorhat, im September für ein Auslandssemester nach Paris zu reisen. Um Geld zu verdienen, arbeitet Gwen als Lektoratsassistentin in einem Verlag; Adam nimmt mit einer Hilfstätigkeit in der Butler Library der Columbia University vorlieb. Einmal weist ihn sein Vorgesetzter zurecht, weil er zwei Bücher vertauscht ins Regal stellte:

Ein falsch eingeordnetes Buch kann für zwanzig Jahre oder mehr, vielleicht für immer unauffindbar bleiben […]
Die Vorstellung setzt dich in Erstaunen. Tu etwas an den falschen Platz, und obwohl es noch da ist – womöglich unmittelbar vor deiner Nase –, kann es bis in alle Ewigkeit verschwunden bleiben. (Seite 107)

Wie jedes Jahr gedenken Adam und Gwen am 26. Juli, dem Geburtstag ihres Bruders, des Toten. In diesem Jahr trösten sie sich mit Küssen und schlafen dann miteinander. Vor sechs Jahren, als die Eltern übers Wochenende verreist waren, erkundeten sie schon einmal gegenseitig ihre Körper und die Sexualität, aber damals wagten sie nur Fellatio und Cunnilingus. Diesmal ist das anders. Weil Gwen die Pille nimmt, brauchen sie keine Schwangerschaft zu befürchten. An jedem der vierunddreißig Tage bis zu Adams Abflug nach Paris treiben sie es miteinander.

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All das liest Jim Freeman in einem autobiografischen Manuskript, das ihm sein früherer Kommilitone Adam Walker im Frühjahr 2007 mit der Post schickt. Die beiden hatten 1965 zusammen an der Columbia University zu studieren angefangen, sich jedoch seit 1969 nicht mehr gesehen. Jim Freeman hat sich inzwischen als Schriftsteller einen Namen gemacht. Er lebt noch immer in New York. Weil Adam davon gehört hat, dass Jim in einem Monat zu einer Veranstaltung nach San Francisco kommen wird, lädt er ihn ein, bei ihm in Oakland vorbeizuschauen. Er sei an Leukämie erkrankt, lässt er ihn wissen, und werde nicht mehr lange leben.

Jim recherchiert und stellt fest, dass im Studienjahr 1966/67 tatsächlich ein Rudolf Born als Gastprofessor an der School of International Affairs tätig war. Und über die Ermordung des achtzehnjährigen Afroamerikaners Cedric Williams im Mai 1967 gibt es Presseberichte.

Aus einem Brief Adams erfährt Jim, dass Adam nach dem Studienabschluss im Juni 1969 kurz zu seinen Eltern zurückkehrte und bei der Musterung zurückgestellt wurde, weil er sich kurz zuvor bei einem Treppensturz ein Bein gebrochen hatte. Im Herbst 1969 zog Adam nach London. Drei Jahre später brachte ein Kleinverlag einen Gedichtband von ihm heraus, von dem sich gerade einmal fünfzig Exemplare verkauften. Im Juni 1973 verbrannte Adam seine Gedichte und kehrte in die USA zurück.

Adam studierte an der University of California in Berkeley Jura.

Der Plan war: Gutes zu tun, für die Armen und Unterdrückten zu arbeiten, mich für die Verachteten und die Unsichtbaren (Hervorhebung durch den Autor der Inhaltsangabe) einzusetzen und zu versuchen, sie gegen die Grausamkeit und Gleichgültigkeit der amerikanischen Gesellschaft zu verteidigen. (Seite 88)

Siebenundzwanzig Jahre lang engagierte sich Adam in Oakland als Rechtsbeistand für Arme. Die Einkünfte waren dürftig, aber nach dem Tod der Mutter im Jahr 1974 und des Vaters zwei Jahre später teilte er sich mit seiner Schwester die Erbschaft, und Gwen legte das Geld für sie beide ertragreich an.

Mit sechsunddreißig lernte Adam die sechs Monate jüngere afroamerikanische Sozialarbeiterin Sandra Williams kennen. Sie war geschieden und hatte eine zwölfjährige Tochter: Rebecca. Neunzehn Jahre lang war Adam glücklich mit ihr verheiratet, bis sie vor fünf Jahren an Gebärmutterhalskrebs starb.

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Während seines Aufenthalts an der Westküste fährt Jim zu der von Adam angegebenen Adresse in Oakland. Rebecca öffnet ihm. Sie ist inzwischen fünfunddreißig. Ihr Stiefvater sei vor sechs Tagen gestorben, erklärt sie.

Rebecca fragt, ob Jim etwas von einer Autobiografie wisse, die Adam plante. Er tut so, als höre er davon zum ersten Mal, denn er will ihr den Inhalt des Manuskripts nicht zumuten. Er ist froh, als sie ihm erzählt, sie habe die entsprechenden Dateien ihres Stiefvaters auf dem Computer ungeöffnet gelöscht, so wie er es ihr aufgetragen hatte. Adam hatte ihr auch einen dicken Umschlag für Jim anvertraut, den sie nun ihrem Besucher übergibt.

Beim Inhalt handelt es sich um den dritten Teil des Manuskripts: auf „Frühling“ und „Sommer“ folgt „Herbst“. Weil Adam wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde, beschränkte er sich auf Notizen im Telegrammstil. Jim macht daraus ganze Sätze. Es geht um Adams Aufenthalt 1967 in Paris.

Weil Adam nicht mit anderen Kommilitonen zusammen sein möchte, nimmt er sich ein Zimmer im schäbigen Hôtel du Sud statt im Wohnheim.

Nach ein paar Tagen ruft er die Nummer von Margots Eltern an. Sie hebt selbst ab und trifft sich mit ihm. Er berichtet ihr von dem Abend, an dem Cedric Williams von Rudolf Born ermordet wurde.

Auf die Frage, ob Born sich homoerotisch zu ihm hingezogen gefühlt habe, erzählt sie ihm, dass sie Rudolf einmal überredet habe, mit ihr und einem anderen Mann ins Bett zu gehen. Rudolf machte zwar mit und schaute beim Koitus mit dem anderen Mann zu, zeigte aber kein homosexuelles Interesse.

Zwei Tage nach dem Wiedersehen mit Margot wird Adam in einem Straßencafé von Rudolf Born angesprochen. Der Ältere behauptet, nur einmal in Notwehr zugestochen zu haben. Wer dem afroamerikanischen Jungen die übrigen Messerstiche zufügte, wisse er nicht. Adam glaubt ihm nicht. Um Born für das Delikt büßen zu lassen, will er dessen geplante Eheschließung mit Hélène Juin verhindern. Zum Schein versöhnt er sich mit ihm, lässt sich einladen und lernt sowohl die Sprachpädagogin Hélène Juin als auch deren achtzehnjährige Tochter Cécile kennen, die das Lycée Fénelon besucht. Er erschleicht sich Céciles Vertrauen und lässt es zu, dass sie sich in ihn verliebt. Unter dem Vorwand, er habe sich in New York gerade von einer Frau getrennt und brauche noch etwas Zeit, um darüber hinwegzukommen, hält er Cécile hin.

Unter vier Augen erzählt Adam Hélène Juin, was vor ein paar Monaten im Riverside Park geschah. Am nächsten Tag ruft Born ihn an, beschimpft ihn unflätig und rät ihm, sofort aus Frankreich zu verschwinden. Adam passt Cécile vor dem Lycée Fénelon ab, aber sie will nichts mehr mit ihm zu tun haben und spuckt ihm ins Gesicht. Zwei Polizisten durchsuchen sein Hotelzimmer und ziehen ein Paket mit zweieinhalb Kilogramm Haschisch aus einer Schublade. Der Untersuchungsrichter erklärt ihm, ein einflussreicher Herr habe sich für ihn eingesetzt. Deshalb sei man bereit, die Anklage fallen zu lassen, wenn er seiner sofortigen Abschiebung zustimme. Adam nimmt das Angebot an und studiert weiter an der Columbia University.

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Im Herbst 2007 fliegt Jim Freeman von San Francisco zurück nach New York.

Er trifft sich mit Gwyn, die mit dem Architekten Philip Tedesco verheiratet ist, zwei erwachsene Töchter hat und einen Universitätsverlag leitet. Die Einundsechzigjährige fragt ihn nach dem Manuskript. Ihr Bruder hatte ihr kurz vor seinem Tod in einer E-Mail mitgeteilt, dass er an einer Autobiografie gearbeitet habe und ihr geraten, sich an Jim zu wenden, falls sie den Entwurf lesen wolle. Jim schickt ihr eine Kopie nach Boston. Zwei Tage später ruft sie ihn an. Sie habe niemals eine inzestuöse Beziehung mit ihrem Bruder gehabt, erklärt sie, weder als sie sechzehn war noch 1967. Gwyn fordert Jim auf, das Manuskript zu redigieren und vor der Veröffentlichung die Namen sowohl der Personen als auch der Orte zu ändern.

Im Oktober 2007 fliegt Jim mit seiner Frau zur Hochzeit einer Nichte nach Paris. Die Gelegenheit nutzt er, um sich mit Cécile Juin zu treffen, deren Adresse er im Internet fand. Die Literaturwissenschaftlerin arbeitet seit zehn Jahren für das Centre National de la Recherche Scientifique. Ihre erste Ehe wurde geschieden, Stéphane, ihr zweiter Ehemann, erlag 1999 einer Krankheit. Kinder hat sie keine. Ihre Mutter Hélène starb vor sechs Jahren im Alter von sechsundsiebzig Jahren. Hélène hatte sich doch nicht scheiden lassen, und obwohl ihr im Koma liegender Ehemann im Januar 1970 verschieden war, verwirklichten sie und Rudolf Born ihre Heiratspläne nicht. Born hatte Paris 1968 verlassen und eine Professur in London angenommen. Er starb 2006.

Im Juni 2002, ein dreiviertel Jahr nach dem Tod ihrer Mutter, sah Cécile ihn noch einmal wieder. Weil es ihr zu peinlich ist, über die Begegnung zu reden, schickt sie Jim Kopien von Tagebuch-Eintragungen aus dem Jahr 2002.

Ende April 2002 erhält Cécile einen Brief von Rudolf Born. Er ist inzwischen einundsiebzig Jahre alt, emeritiert, unverheiratet, und lebt seit sechs Jahren auf der Insel Quillia zwischen Trinidad und den Grenadinen. Cécile folgt seiner Einladung, ihn dort zu besuchen. Die Dreiundfünfzigjährige fliegt nach Barbados und dann weiter nach Quillia. Das Anwesen, auf das Born sich zurückgezogen hat, ist nur nach einem einstündigen Fußmarsch zu erreichen.

Born versichert, er habe weder mit der Ermordung des afroamerikanischen Jungen im Riverside Park noch mit Adam Walkers Abschiebung aus Frankreich etwas zu tun gehabt. Er überrascht sie mit einem Heiratsantrag und schlägt ihr vor, mit ihm ein Jahr lang an seinen Memoiren zu arbeiten. Statt als Autobiografie soll das Buch mit geänderten Namen als Roman herauskommen, denn es geht um brisante Tatsachen. Born deutet an, für den französischen Geheimdienst gearbeitet zu haben. Als Agent Y herausfand, dass sein Freund X zugleich für die Sowjetunion spionierte und ihm mit der Enttarnung drohte, tötete dieser ihn, indem er die Bremsen des Autos manipulierte, das seinem Freund gehörte. Cécile argwöhnt, dass es sich dabei um den Unfall ihres Vaters handelte, aber Born beteuert, Juin habe nichts mit dem Geheimdienst zu tun gehabt.

Cécile reist verwirrt und überstürzt ab. Auf dem Rückweg kommt sie an fünfzig, sechzig schwarzen Männern und Frauen vorbei, die in einer schattenlosen Ödnis bei glühender Sonne Steine klopfen.

Lange stand ich dort und schaute ihnen zu. Ich schaute und lauschte und fragte mich, ob ich so etwas schon jemals gesehen hatte. Das war die Arbeit, die man normalerweise mit Strafgefangenen in Verbindung bringt, mit Menschen in Ketten, aber diese Menschen trugen keine Ketten. Sie arbeiteten, sie arbeiteten für Geld, davon lebten sie. Die Musik der Steine war vielschichtig und unmöglich, eine Musik von fünfzig, sechzig klirrenden Hämmern, von denen sich jeder in seinem eigenen Tempo bewegte, jeder seinen eigenen Rhythmus hatte, und zusammen bildeten sie eine sperrige, grandiose Harmonie, ein Geräusch, das in meinen Körper eindrang und dort blieb, auch als ich längst gegangen war, und noch jetzt, im Flugzeug hoch über den Ozean, höre ich das Klirren der Hämmer in meinem Kopf. Dieses Geräusch wird immer bei mir sein. Bis ans Ende meines Lebens, ganz gleich, wo ich bin, ganz gleich, was ich tue, es wird immer bei mir sein. (Seite 315f)

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Paul Auster hat den Roman „Unsichtbar“ aus verschiedenen Textelementen komponiert: Im ersten Teil erzählt der Protagonist Adam Walker, wie er 1967, vor vierzig Jahren, in New York dem Politologie-Professor Rudolf Born begegnete und durch einen Mord mit der Verdorbenheit der Gesellschaft konfrontiert wurde. Auch der zweite Teil beginnt im Imperfekt und in der Ich-Form, aber als Erzähler fungiert nun Jim Freeman, ein ehemaliger Kommilitone Adam Walkers. Dieser schickt ihm 2007 die ersten beiden Teile eines autobiografischen Manuskripts. An dieser Stelle begreifen wir, dass Teil eins des Romans aus dem ersten Kapitel des Manuskripts bestand („Frühling“). Das zweite Kapitel („Sommer“) ist hier auf den Seiten 99 bis 159 abgedruckt. Dafür verwendet Paul Auster das Präsens und die zweite Person Singular. Im dritten Teil von „Unsichtbar“ lässt er zunächst wieder Jim Freeman im Jahr 2007 zu Wort kommen (Imperfekt, Ich-Form). Den Hauptteil (S. 172 bis 249) bildet das von Jim Freeman redigierte dritte Kapitel des unvollendeten Manuskripts. Es trägt den Titel „Herbst“ und wurde im Präsens und in der dritten Person Singular verfasst. Der vierte und letzte Teil des Romans „Unsichtbar“ setzt sich aus einem Bericht Jim Freemans (2007, Imperfekt, Ich-Form) und von Cécile Juin im Jahr 2002 verfassten Tagebuch-Aufzeichnungen zusammen.

Der Roman „Unsichtbar“ wird also mit einem Buch-im-Buch-Effekt aus drei verschiedenen Perspektiven entwickelt (Adam Walker, Jim Freeman, Cécile Juin). Darüber hinaus baut Paul Auster auch noch Briefe ein. Sobald wir beginnen, einer der Versionen zu vertrauen, erweist sie sich als subjektiv und zweifelhaft. Dass die Karibik-Insel Quillia nicht existiert, auf der ein Teil der Handlung spielt, verunsichert uns noch mehr. Durch diese klug durchdachte Konstruktion des Romans „Unsichtbar“ schiebt sich der Vorgang des literarischen Erzählens ins Zentrum.

Im Gegensatz zu vielen seiner früheren Bücher sind die gebrochene Form, die wechselnden Perspektiven, die Leerstellen im Plot (sozusagen das uneinholbare Ansich) mehr als nur Jahrmarkttricks eines postmodernen Gauklers, der am Ende die Spiegel zusammenklappt, mit denen er den Leser genarrt hat. Im neuen Buch heben vielmehr all die bekannten Bluffs die Geschichte tatsächlich auf eine andere Ebene. Weil der doppelte Boden hier nichts rein Zirzensisches hat, sondern die disparaten Motive des Romans zu synthetisieren vermag, ist „Unsichtbar“ Austers bislang bestes und tiefstes Buch. (Christopher Schmidt, Süddeutsche Zeitung, 16. Juli 2010)

In einem Brief rät der Schriftsteller Jim Freeman dem Memoiren-Schreiber Adam Walker, eine gewisse Distanz zwischen sich und seinem Objekt zu erzeugen:

Indem ich von mir selbst in der ersten Person schrieb, hatte ich mich lahmgelegt, mich unsichtbar (Hervorhebung durch den Autor des Kommentars) gemacht, mir die Möglichkeit genommen, das zu finden, wonach ich suchte. Ich musste mich von mir trennen, einen Schritt zurücktreten und ein wenig Raum zwischen mich und meinen Gegenstand (der ich selbst war) bringen, und so begann ich Teil zwei noch einmal von vorn und schrieb ihn in der dritten Person. (Seite 94)

Auf der ersten Seite kommt Paul Auster auf das Inferno in der Göttlichen Komödie von Dante Alighieri zu sprechen, und er beschließt den Roman „Unsichtbar“ mit einer Szene, die wir mit der Hölle assoziieren.

Im Original schreibt der siebenjährige Andy Walker, bevor er schwimmen geht: „Ime in the lake.“ Aus dem Orthografiefehler macht Werner Schmitz in der deutschen Übertragung einen gelungenen, auf den Titel bezogenen Gag: „Ich bin im Seh.“

Den Roman „Unsichtbar“ von Paul Auster gibt es auch in einer gekürzten Fassung als Hörbuch, gelesen von Burghart Klaußner (Bearbeitung: Annika Berns, Regie: Ralph Schäfer, Berlin 2010, 6 CDs, ISBN: 978-3-89813-966-3).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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