Margaret Atwood : Lady Orakel

Lady Orakel
Originalausgabe: Lady Oracle McClelland & Stewart, Toronto 1976 Simon and Schuster, New York 1976 Lady Orakel Übersetzung: Werner Waldhoff Claassen Verlag, Hildesheim 1992 ISBN 3-546-00002-1, 376 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nachdem sie von zu Hause fortgelaufen ist, kommt die Kanadierin Joan in London durch einen polnischen Grafen dazu, Kitschromane zu schreiben. Als sie den Anarchisten Arthur heiratet, verheimlicht sie ihm diese Tätigkeit ebenso wie das Verhältnis mit einem verrücken Künstler. Sie führt ein Doppelleben, bis ein Erpresser auftaucht, der über sie Bescheid weiß. Da täuscht Joan ihren Tod im Ontario-See vor und flieht nach Italien ...
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Kritik


"Lady Orakel" ist ganz witzig, locker und unterhaltsam, aber auch nicht mehr und in keiner Weise vergleichbar z. B. mit Margaret Atwoods Roman "Der blinde Mörder".

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Als Kind verschlang die Ich-Erzählerin Joan alles Essbare und war entsprechend dick: Mit fünfzehn wog sie 225 Pfund. Ihr Vater Phil war vor ihrer Geburt im Jahr 1942 in den Krieg gezogen und erst zurückgekommen, als sie fünf Jahre alt war. Er arbeitet inzwischen als Narkosearzt in einem Krankenhaus in Toronto. Joan war sieben, als ihre Mutter Frances sie in einer Tanzschule anmeldete. Bei einer Aufführung sollte sie einen Schmetterling spielen, aber Miss Flegg, die Leiterin der Tanzschule, überredete sie im letzten Augenblick, das Kostüm auszuziehen und stattdessen als Mottenkugel auf die Bühne zu gehen. Im Jahr darauf kam Joan zu den Pfadfinderinnen. Einmal entblößte sich ein Exhibitionist vor der Achtjährigen. Ein paar Tage später wurde sie von den zwei Jahre älteren Pfadfinderinnen Elizabeth, Marlene, Lynne in der Nähe der Stelle, an der sie von dem Exhibitionisten überrascht worden war, mit verbundenen Augen an ein Brückengeländer gefesselt. Ein freundlicher älterer Herr befreite Joan.

Als Joans neunundvierzig Jahre alte Tante Louisa („Lou“) K. Delacourt starb, hinterließ sie ihr 2000 Dollar, die ihr jedoch erst ausgezahlt werden sollten, nachdem sie 100 Pfund abgenommen hatte. Zum Entsetzen ihrer Mutter schluckte Joan Schlankheitspillen und Abführmittel, machte Gymnasitik und aß kaum noch etwas, obwohl ihr Körper darauf mit Herzrasen, Magenkrämpfen, Kopfschmerzen und Schwächeanfällen reagierte.

Frances wollte sie aufs Trinity College der Universität von Toronto schicken, aber Joan nahm stattdessen Teilzeitjobs an, um Geld zu verdienen und das Elternhaus verlassen zu können. Als ihre Mutter in einem Wutanfall mit einem Küchenmesser auf sie losging und sie am Arm ritzte, war es so weit: Joan ging zur Anwaltskanzlei ihrer verstorbenen Tante, stellte sich dort auf die Waage und kaufte sich von dem geerbten Geld ein Flugticket nach London. Sie schaute nur noch kurz bei ihrem Vater im Krankenhaus vorbei.

Sechs Wochen nach ihrer Ankunft in London stürzt Joan am Trafalgar Square beim Aussteigen aus einem Doppeldeckerbus. Ein einundvierzigjähriger polnischer Graf mit Rufnamen Tadeo, der jedoch lieber Paul genannt werden möchte, begleitet sie zu ihrem Zimmer und verbindet ihr dort den verstauchten Fuß. Als ihr Vermieter den Mann bei ihr sieht, wirft er sie hinaus. Arglos zieht Joan zu Paul. Unfähig, sich in irgendeiner Weise zu wehren, lässt Joan sich von ihm deflorieren. Er wundert sich, denn er hielt sie für ein verkommenes Mädchen. Trotz des Vorfalls bleibt Joan bei ihm und wird seine Mätresse.

Unsere grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten bestanden darin: Ich glaubte an die wahre Liebe, er glaubte an Ehefrauen und Mätressen; ich glaubte an Happy Ends, er an katastrophale Enden; ich dachte, ich wäre in ihn verliebt, er war alt und zynisch genug, um zu wissen, dass ich es nicht war. (Seite 175)

In der Bibliothek des polnischen Grafen entdeckt Joan Ärzte- und Schwesternromane, und als sie ihn danach fragt, gesteht er ihr, dass er unter dem Pseudonym Mavis Quilp Trivialromane schreibt. Joan macht es ihm nach und beginnt, unter dem Pseudonym Louise K. Delacourt historische Groschenromane zu schreiben. Der erste trägt den Titel „The Lord of Chesney Chase“. Bald verdient sie mehr als Paul.

Im Juli 1963, kurz vor ihrem 21. Geburtstag, lernt Joan im Hyde Park Arthur Edward Foster kennen. Er verteilt dort politische Flugblätter. Arthur ist Kanadier wie sie, Sohn eines Richters und einer religiösen Fanatikern. Eigentlich sollte er Rechtsanwalt werden oder wenigstens missionierender Arzt, aber er studierte aus Protest gegen seine Eltern Philosophie. Seine Wohnung in London teilt er sich mit einem Neuseeländer und einem Inder, die seine anarchistischen Anschauungen teilen.

Joan verlässt ihren polnischen Grafen und zieht zu Arthur und seinen beiden Mitbewohnern. Dass sie Trivialromane schreibt, verrät sie ihm nicht, denn die Bücher, die er liest, haben alle Fußnoten.

In einem Telegramm ihres Vaters heißt es, ihre Mutter sei tot. Joan hat kein Geld für den Rückflug. Sie muss erst heimlich im Lesesaal einer öffentlichen Bibliothek ihren Roman „Flucht vor der Liebe“ fertig schreiben und das Honorar dafür in Empfang nehmen, um sich wenigstens den Hinflug leisten zu können. Aber sie kommt zu spät: Ihre Mutter wurde bereits begraben. Sie sei über die Kellertreppe hinuntergestürzt und habe sich das Genick gebrochen, erklärt Phil. Joan überlegt kurz, ob er Frances ermordet haben könnte.

Neun Tage bleibt sie bei ihrem Vater, dann nimmt sie sich ein billiges Zimmer in Toronto und beginnt, das mit Gelegenheitsjobs verdiente Geld für den Rückflug nach London zusammenzusparen. Aber bevor sie es beisammen hat, taucht Arthur bei ihr auf: Er ist an die Universität Toronto zurückgekehrt und wohnt im Studentenwohnheim. 1964 wollen sie heiraten.

Das einzige Problem bei der Hochzeit selbst war, dass Arthur sich weigerte, in der Kirche getraut zu werden, weil er Religion ablehnte. Er weigerte sich auch, standesamtlich zu heiraten, weil er die gegenwärtige Regierung ablehnte. (Seite 216)

Der Ausweg ist eine Trauung durch eine obskure Geistliche, die sich Reverend Eunice P. Revele nennt. In ihr erkennt die Braut Leda Sprott, die Leiterin eines Spiritualistengrüppchens, das sie als dicke Jugendliche kennen gelernt hatte. Während Joan panische Angst hat, dass Leda Sprott alias Eunice P. Revele ihrem Bräutigam erzählen könnte, wie dick sie einmal war, bittet diese sie unter vier Augen, sie auch nicht zu verraten, weil auf Leda Sprott überall Gläubiger lauern.

Joan heißt nun Foster, aber sie ist auch Louisa K. Delacourt. Wenn sie zu Hause an einem Trivialroman schreibt, lügt sie Arthur beispielsweise vor, sie arbeite im Rahmen eines Volkshochschulkurses an einem Essay über die Soziologie der Töpferkunst.

Meiner Meinung nach machten die meisten Frauen einen grundsätzlichen Fehler: Sie erwarteten, dass ihre Ehemänner sie verstanden. Sie verwandten viel wertvolle Zeit darauf, sich selbst zu erklären, ihre Emotionen und Reaktionen […] (Seite 236)

Schließlich versucht sie es bei Kerzenschein mit automatischem, also spiritistischem Schreiben und schickt das Romanmanuskript an den Verlag Morton & Sturgess. John Morton, Doug Sturgess und Colin Harper laden sie zu einem Treffen ein: Sie sind begeistert und wollen das Buch unter dem Titel „Lady Orakel“ veröffentlichen. Diesmal verwendet sie ihren richtigen Namen: Joan Foster. „Lady Orakel“ wird ein Bestseller, und der Verlag schickt sie sowohl ins Fernsehen als auch auf eine Promotion-Tour quer durch Kanada.

Eines Tages macht Arthur sie mit seinem Universitätskollegen Don Pugh und dessen Ehefrau Marlene bekannt. Joan erkennt in Marlene eine der Pfadfinderinnen, die sie an das Brückengeländer gefesselt hatten, aber Marlene erinnert sich offenbar nicht mehr an sie. Sie gibt das linke nationalistisch-kanadische Magazin „Resurgence“ heraus. Don ist der Chefredakteur, und Arthur wird freier Redakteur. Don, Marlene und der Redakteur Sam Spinsky ziehen praktisch bei Joan und Arthur ein, so oft treffen sie sich. Es dauert nicht lang, bis Joan merkt, dass Sam und Marlene heimlich ein Verhältnis haben.

Einige Zeit später lernt Joan den „kon-kreativen Poeten“ Chuck Brewer kennen, der sich als Künstler und im Leben „Königliches Stachelschwein“ nennt. Er nimmt sie mit zur Vernissage seiner neuen Ausstellung. Bei den Exponaten handelt es sich um eingefrorene, auf der Straße überfahrene Tiere aller Art. Joan begleitet ihn nach Hause und schläft mit ihm.

Unmittelbar danach überredet sie Arthur zu einem Kurzurlaub in Italien, in Terremoto bei Rom.

Nach ihrer Rückkehr ruft sie das Königliche Stachelschwein an und beginnt ein weiteres Doppelleben als Ehefrau eines Anarchisten und Geliebte eines verrückten Künstlers.

Gegen ihre Gewohnheit greift sie einmal in eine politische Diskussion zwischen Arthur, Don, Sam und Marlene ein. Es geht darum, als politische Aktion einen Polizisten zu bespucken. Joan hält nichts davon und meint, es sei wirkungsvoller, die Friedensbrücke zu sprengen. Die anderen nehmen das ernst. Ein paar Tage später schleppt Marlene ein Paket Dynamit an, das sie aus dem Baugeschäft ihres Vaters gestohlen hat. Joan soll sich ein billigstes Gebrauchtauto kaufen, den Sprengstoff in den Kofferraum packen und das Fahrzeug an wechselnden Stellen parken, bis der Plan für die Aktion fertig ist. Stattdessen deponiert Joan das Paket beim Königlichen Stachelschwein im Keller. Als der Künstler es heimlich öffnet und das Dynamit mit den Zündern entdeckt, überredet er Joan zu einer Kunstaktion: einer nächtlichen Sprengung im High Park mit anschließendem Koitus.

Eines Nachts überrascht Joan in ihrer Wohnung einen Einbrecher, den sie auf einer Party kennen gelernt hatte: Fraser Buchanan. Er weiß sowohl von ihrer Affäre mit dem Königlichen Stachelschwein als auch von ihren Trivialromanen. Für sein Schweigen verlangt er 20 Prozent ihrer zukünftigen Honorare. Ähnliche Abkommen hat er mit anderen Schriftstellern.

Da sieht Joan keinen anderen Ausweg mehr, als ihren Tod vorzutäuschen. Damit Sam und Marlene ihr dabei helfen, erzählt sie ihnen, man observiere seit zwei Tagen das Auto mit dem Sprengstoff. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis man über den Verkäufer des Wagens ihre Adresse herausfinde und das geplante Attentat aufdecke. Hoffnung bestehe nur, wenn es die Mounties sind, denn die kommen vielleicht nie dahinter und wenn, dann gibt es wenigstens ein ordentliches Gerichtsverfahren. Aber es könnten auch CIA-Agenten sein. In diesem Fall müsse man sich vor einem tödlichen Verkehrsunfall in Acht nehmen. Joan schlägt vor, den angeblich irgendwo geparkten Wagen stehen zu lassen und überredet Sam und Marlene, mit ihr in einem gemieteten Segelboot auf dem Ontario-See hinauszufahren. Vom Boot aus schwimmt sie an den Strand, wo sie einen Leihwagen geparkt hat und trockene Sachen anzieht. Sam und Marlene sollen bei der Polizei angeben, sie sei über Bord gegangen und ertrunken.

Ungehindert fliegt Joan nach Rom und nimmt sich in Terremoto ein Zimmer. Sie rechnet zwar nicht damit, dass die Bewohner des Dorfes sich an sie erinnern, aber sicherheitshalber trägt sie eine Sonnenbrille, schneidet sich ihr hüftlanges rotes Haar mit einer Nagelschere ab und färbt es braun. Die Plastiktüte mit den nassen Kleidungsstücken, die sie nirgendwo loswerden konnte, vergräbt sie.

Nach ein paar Tagen erhält sie postlagernd – sie gab Sam und Marlene die Adresse – die Mitteilung einer Anwaltskanzlei in Toronto, dass man Sam Spinsky und Marlene Pugh unter Mordverdacht verhaftet hat.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Joan wundert sich, warum der Fleischer, der Bäcker und der Lebensmittelhändler in Terremoto unvermittelt nicht mehr freundlich zu ihr sind. Dann bringt ihr der Hausbesitzer Reno Vitroni ihre vergrabenen Kleidungsstücke gewaschen und gebügelt vorbei. Sein Vater fand die Sachen. Die Leute reden darüber. Bei ihrem letzten Aufenthalt hatte sie prächtiges rotes Haar. Man wundert sich, wieso sie es nun kurz trägt und ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verbirgt. Ein Fremder habe nach ihr gefragt, sagt Vitroni, und er bietet ihr an, sie anderswo zu verstecken. Joan, die Erpressung und Gefangenschaft befürchtet, will sich lieber mit ihrem Leihwagen nach Rom absetzen – aber man hat ihren Tankinhalt abgesaugt.

Als sie Schritte auf dem Kies vor dem Haus hört, packt sie eine leere Cinzano-Flasche, und sobald der Mann an die Tür kommt, schlägt sie ihn damit nieder. (Joan kennt ihn offenbar, aber sie nennt seinen Namen nicht.) Vitroni hilft ihr, den Verletzten ins Krankenhaus nach Rom bringen zu lassen. Die Kopfwunde muss mit sieben Stichen genäht werden. Der Patient leiht ihr das Geld für ein Flugticket nach Toronto – sie muss doch Sam und Marlene aus dem Gefängnis holen –, aber sie zieht erst einmal in eine Pension in Rom und besucht den Verletzten regelmäßig im Krankenhaus.

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„Lady Orakel“ ist in der Ich-Form geschrieben. Das Buch beginnt und endet mit Joans Aufenthalt in Terremoto nach ihrem vorgetäuschten Tod im Ontario-See. Was vorher geschah, erfahren wir aus ihren Erinnerungen. Die Rückblenden verknüpft Margaret Atwood außerdem mit Passagen aus Joans Kitschromanen. Das ist ganz witzig, locker und unterhaltsam, aber auch nicht mehr und in keiner Weise vergleichbar zum Beispiel mit „Der blinde Mörder“.

Haben Sie herausgefunden, wer der Mann ist, den Joan am Ende niederschlägt? Dann schreiben Sie mir doch bitte. Dieter Wunderlich.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Claassen Verlag

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