Margaret Atwood : Hexensaat

Hexensaat
Originalausgabe: Hag-Seed Hogarth, London 2016 Hexensaat Übersetzung: Brigitte Heinrich Albrecht Knaus Verlag, München 2017 ISBN: 978-3-8135-0675-4, 314 Seiten ISBN: 978-3-641-16143-9 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der kanadische Theaterregisseur Felix Phillips hat alles verloren: Frau und Tochter starben. Eine Intrige raubt ihm die Festspielleitung. Grollend zieht er sich wie ein Eremit zurück. Dann gründet er in einem Gefängnis eine Theatergruppe. Zwölf Jahre nach seiner Schmach erhält er eine Gelegenheit zur Rache: Seine ahnungslosen Widersacher kündigen ihre Teilnahme an einer Theateraufführung in der JVA an. Felix studiert "Der Sturm" ein ...
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Kritik

"Hexensaat" ist ein amüsanter Roman voller Esprit. Margaret Atwood verlegt die Handlung der Shakespeare-Komödie "Der Sturm" nach Kanada und ins 21. Jahr­hundert. Dabei verschachtelt sie den Plot dreimal ineinander.
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Die Vorgeschichte: Felix Phillips verliert Frau, Tochter und Job

Der kanadische Theaterregisseur Felix Phillips hat alles verloren. Ein knappes Jahr nach der Hochzeit starb seine Frau an einer Staphylokokken-Infektion und ließ ihn mit der neugeborenen Tochter Miranda zurück, die im Alter von drei Jahren an Meningitis erkrankte und ihrer Mutter ins Grab folgte. 2001 wurde der damals 50-Jährige auch noch als künstlerischer Leiter des Theaterfestivals in Makeshiweg gefeuert und konnte William Shakespeares Stück „Der Sturm“ nicht mehr aufführen, mit dem er sich selbst übertreffen und Miranda zum Leben erwecken wollte. Für die Rolle hatte er die 16-jährige Anne-Marie Greenland ausgesucht. Prospero hätte er selbst gespielt.

Sein Ariel, entschied er, würde von einem Transvestiten auf Stelzen gespielt.

Caliban wäre ein schrundiger Penner – schwarz, vielleicht auch indianischer Herkunft – und zudem querschnittsgelähmt, der sich auf einem überdimensionierten Skateboard über die Bühne schob.

In allen seinen Inszenierungen setzte er neue Gedanken um, die nicht immer auf Verständnis trafen, aber er sagte sich: „Wo Buhrufe sind, da ist Leben!“

Was war so schwierig an einem Macbeth mit Kettensäge?

Er hatte die Besten angeheuert, hatte die Besten inspiriert – ­beziehungsweise die Besten, die er sich leisten konnte. Er hatte die Technikgnome und -kobolde, die Beleuchter, die Tontechniker handverlesen. Er hatte die meistbewunderten Bühnen- und Kostümbildner seiner Zeit abgeworben, zumindest die, die sich hatten abwerben lassen.

Dafür hatte er Geld gebraucht.
Das Geld aufzutreiben war Tonys Aufgabe gewesen. Eine Handlangerarbeit.

Sein Fehler war, dass er Anthony („Tony“) Price zu wenig kontrollierte, weil er mit seinen Ideen beschäftigt war. Tony war es dann auch, der ihm die Kündigung des Festivalpräsidiums überbrachte und scheinheilig log, er habe sich vergeblich für Felix eingesetzt. Offenbar hatte Tony nicht nur Lonnie Gordon, den Vorsitzenden des Festivalpräsidiums, sondern auch Sal O’Nally, den Minister für Kultur- und Denkmalpflege, für den Putsch gegen den Leiter des Festivals gewonnen. Auf die Frage, ob es bereits einen Nachfolger gebe, antwortete Tony:

„Ja, in der Tat. Sal … das Präsidium hat, hm, mich gebeten, die Sache zu übernehmen. Natürlich nur vor­übergehend. Bis ein Kandidat passenden Kalibers gefunden werden kann.“

Felix bekam nicht einmal die Gelegenheit, sich von den Mitgliedern seines Ensembles zu verabschieden. Als er ziellos herumfuhr, entdeckte er eine abgelegene Hütte. Dorthin zog er sich zurück.

Felix lebt zwölf Jahre lang wie ein Eremit

Das geschah vor zwölf Jahren. Seither zahlt er der Bauernfamilie, deren Hof zwischen der Hütte und dem nächsten Dorf liegt, an jedem Monatsersten die Miete in bar, ohne jemals überprüft zu haben, ob Bert und Maude die Eigentümer sind. Für sie ist er Mr Duke. Gesellschaft leistet ihm nur seine Tochter Miranda, und auch das nur in seiner Fantasie.

Felix putzt sich die Zähne. Dann putzt er seine anderen Zähne, die falschen, und schiebt sie sich in den Mund.

Das Gebiss sitzt schlecht – eine Katastrophe für einen Schauspieler –, aber einen Zahnarzt kann Felix sich nicht mehr leisten.

Zwei Ziele treiben ihn an: Er muss „Der Sturm“ irgendwie irgendwo auf die Bühne bringen, um seine Miranda zum Leben zu erwecken. Und er will sich vor allem an Tony rächen. Der zog sich nach sechs Jahren vom Theater zurück und begann auf der Grundlage seiner Bekanntheit durch das Festival eine politische Karriere als Abgeordneter im Provinzparlament.

Felix studiert mit Häftlingen Shakespeare-Stücke ein

Vor drei Jahren – im neunten Jahr seines Exils – bewarb sich „Mr Duke“ mit einem erfundenen Lebenslauf und gefälschten Zeugnissen von Schulen in der Provinz Saskatchewan als Nachfolger des plötzlich erkrankten und gestorbenen Leiters eines auf Highschoolniveau angesiedelten Programms „Bildung durch Literatur“ in der nahe­gelegenen Justiz­vollzugs­anstalt von Fletcher County. Das Vor­stellungs­gespräch fand in einem Schnellrestaurant in Wilmot statt. Geführt wurde es von einer Professorin an der Guelph University, die nur ihren Vornamen Estelle nannte und erklärte, sie überwache den Kurs aus der Ferne. Außerdem sitze sie in diversen Beratungskomitees der Regierung. Estelle erkannte Felix Phillips trotz des Bartes, versprach jedoch, sein Inkognito zu wahren.

Felix bekam die Stelle und begann mit „Dieben, Drogenhändlern, Schwindlern, Mördern, Betrügern und Hochstaplern“ Shakespeare-Dramen einzustudieren.

Er begann mit Julius Caesar, machte mit Richard III. weiter und danach mit Macbeth. Machtkämpfe, Verrat, Verbrechen: Seine Schüler erfassten diese Themen sofort, denn auf ihre Art waren sie Experten darin.

Die Theaterstücke wurden auf Video aufgenommen und am Ende über das interne Fernsehnetz in alle Gefängniszellen übertragen.

Gelegenheit zur Rache

Fürs vierte Jahr hat Felix „Heinrich V.“ geplant. Aber es kommt anders. Estelle kündigt ihm Anfang 2013 den Besuch von zwei Ministern am 13. März an. Sie habe in Ottawa von seinen Fortschritten in der JVA berichtet, sagt sie, und das Programm „Bildung durch Literatur“ als Modell auch für andere Gefängnisse empfohlen. Außer dem Justizminister Sal O’Nally will auch Anthony Price kommen, der O’Nally kürzlich als Minister für Kultur- und Denkmalpflege abgelöst hat.

Endlich sieht Felix eine Möglichkeit, sich an seinen Feinden zu rächen. Sie werden zu ihm kommen, ohne zu ahnen, wer „Mr Duke“ ist. Und er wird statt des Dramas „Heinrich V.“ die Shakespeare-Komödie „Der Sturm“ aufführen.

Im Internet macht er Anne-Marie Greenland ausfindig, die nach ein paar Nebenrollen vom Theater zum Tanz wechselte und als Teilzeit-Barista arbeitet. Felix gelingt es, sie für das Vorhaben zu gewinnen, die zwölf Jahre zuvor einstudierte Rolle der Miranda doch noch zu spielen – wenn auch nicht auf einer Theaterbühne, sondern in einer Haftanstalt.

Am 17. Januar legt er ihr die Besetzungsliste vor:

Prospero, abgesetzter Herzog von Mailand: Mr Duke, Regisseur und Produzent.

Miranda, seine Tochter: Anne-Marie Greenland, ­Schauspielerin, Tänzerin, Choreografin.

Ariel: Handz. Zier­licher Körperbau. Ostasiatischer Herkunft. Ungefähr dreiundzwanzig. Sehr gescheit. Geschickt mit Computern und sehr versiert in technischen Dingen. Verurteilung: Hacker, Identitätsdiebstahl, Hochstapelei. Fälschung. Empfindet seine Aktivitäten als gerecht, da er glaubt, als gütiger Robin Hood gegen die bösen King-John-Kapitalisten dieser Welt vorgegangen zu sein. Wurde von einem älteren Kollegen verraten, als er sich weigerte, Wohltätigkeitsorganisationen für Flüchtlinge zu hacken. Spielte in Richard III den Rivers.

Caliban: Leggs. Ungefähr dreißig. Gemischtrassig, irisch und schwarz. Rothaarig, sommersprossig, kräftig gebaut, besucht häufig das Fitnessstudio. Veteran, war in Afghanistan. Die Veteranen­organisation versäumte es, eine Behandlung wegen posttraumatischer Belastungsstörung zu übernehmen. Verurteilung: Einbruch, Tätlichkeiten in Verbindung mit Drogen und Alkohol. War in Suchtbehandlung, aber das Programm wurde gestrichen. Spielte den Brutus, die Zweite Hexe, den Clarence. Hervorragender Schauspieler, aber empfindlich.

Ferdinand, Sohn des Alonso: WonderBoy. Sieht aus wie fünfundzwanzig, ist aber wahrscheinlich älter. ­Skandinavischer Name. Sympathisch, frisch, gut­aussehend, glaubwürdig; kann sehr ernsthaft wirken. Verurteilung: Betrug; verkaufte Lebensversicherungen an leichtgläubige Senioren. Besonders bei Einwanderern effektiv. Spielte den Macduff und den Hastings in Richard III.

Alonso, König von Neapel: Krampus. Etwa fünfundvierzig, Mennonit. Langes Pferdegesicht. Mitglied eines Mennonitenrings, der unter dem Deckmäntelchen der Frömmigkeit in Landmaschinen mexikanische Drogen in die USA schmuggelte. Depressiv. Spielte den Banquo in Macbeth, den Brutus in Julius Caesar.

Sebastian, Bruder des Alonso: Phil the Pill. Vietnamesischer Flüchtlingshintergrund; die Familie brachte Opfer, um ihm das Medizinstudium zu ermög­lichen. Ungefähr vierzig. Findet, er sei fälsch­licherweise verurteilt worden. Verurteilung: Totschlag in Verbindung mit dem Tod dreier junger Collegestudenten durch eine Überdosis; er hatte ihnen wiederholt Rezepte für süchtig machende Schmerzmittel ausgestellt. Behauptet, sie hätten ihn angefleht, ihnen zu helfen. Leicht manipulierbar. Spielte den Buckingham in Richard III.

[…]

Gonzalo, älterer Ratsherr Alonsos: Bent Pencil. Übergewichtig, bekommt allmählich eine Glatze. In den Fünfzigern. WASP-Hintergrund. Buchhalter. Verurteilung: Veruntreuung. Intelligent mit Neigung zum Philosophischen. Empfindet seine Verurteilung als unverdient. Von den anderen respektiert, die glauben, er kann ihnen helfen, das System zu überlisten, wenn sie einmal draußen sind. Spielte den Cassius in Julius Caesar, den Duncan in Macbeth.

Antonio, usurpatorischer Bruder des Prospero: SnakeEye. Italienischer Herkunft. Schlank, macht Krafttraining. Hat einen Tic und blinzelt. Etwa fünfunddreißig. Juradiplom, das sich bei genauerer Überprüfung als gefälscht herausstellte. Verurteilung: Immobilien-Betrüger; Urkundenfälschung, verkaufte Immobilien, die ihm nicht gehörten. Betrieb auch in kleinerem Umfang ein Schneeballsystem. Überzeugend, aber nur für die, die überzeugt werden wollen. Ausgeprägte Anspruchshaltung. Hält andere für gutgläubig und findet, sie verdienten es, gerupft zu werden; meint, er sei nur aus verfahrenstechnischen Gründen erwischt worden. Spielte den Macbeth und Richard III. Guter Schurke.

Stephano, ein betrunkener Butler: Red Coyote. Mitte zwanzig. Kanadisch-indianischer Herkunft. Verurteilung: Alkoholschmuggel, Drogenhandel. Findet nicht, dass er etwas Illegales getan hat, da das Rechtssystem ohnehin illegal sei. Spielte den Mark Anton in Julius Caesar. Spielte die Erste Hexe in Macbeth.

Trinculo, ein Spaßmacher: TimEEz. Zur Hälfte chinesischer Herkunft. Rundes Gesicht, blass. Wählte seinen Künstlernamen nach Timmy’s Donut-Kette, behauptet, in der Mitte seines Kopfes sei nichts. Stellt sich dümmer, als er ist. Hochentwickelte Fähigkeiten als Taschendieb. Verurteilung: Chef eines Ladendiebstahlrings. Behauptet, dazu gezwungen worden zu sein. Wahrsager in Julius Caesar, Pförtner in Macbeth. Geborener Clown.

Ansager: Wir haben stets einen Ansager besetzt, der Kurzfassungen der einzelnen Szenen spricht, damit das Publikum der Handlung folgen kann. Überlegung, Shiv the Mex in dieser Rolle zu besetzen. Stammt aus New Mexico. Verurteilung: Körperverletzung. Trat als Vollstrecker einer Gang auf. Extrovertiert, gute Stimme. Spielte den Lord Grey in Richard III.

Bootsmann: PPod. Afrikanisch-kanadischer Herkunft. Musikalisches Talent, und ja, ich kenne die Klischees. Tänzer, nicht so gut, wie er glaubt, aber gut. Verurteilung: Drogen, Erpressung, Körperverletzung, Bandenbeziehungen. Würde einen guten Caliban abgeben, wird aber in anderer Funktion gebraucht.
[…]

Weil keiner der Männer eine der Göttinnen spielen möchte, schlägt Anne-Marie Greenland vor, Iris, Ceres und Juno mit Puppen darzustellen.

Bei der Probe am 6. Februar legt SnakeEye in der Rolle des Antonio los:

Ich bin der Herzog, der Herzog von Milan
Ich hab das Sagen, ich bin der Boss
Willste Asche, musste kuschen […]
Mein Bruder Prospero […]
Er war ’n Spacko, war nicht cool
Kümmerte sich ’nen Dreck um seinen Kram
Las lieber Bücher, sagte, hey Bruder
Mach du mal voran.
Mach mal den Boss von Milan
Scheuch sie rum von hier und nach da
Schaff du mal die Kohle ran.
Steckte die Nase in Bücher, der große Zauberer […]
Sah nicht, was ich trieb
Ich wurd zum Dieb
Wurd sein böser Bruder […]

Am 9. Februar kauft Felix nicht nur Kostüme und Requisiten in Toronto, sondern besorgt auch „Päckchen mit Gelkapseln, ein Tütchen voll Puder, eine Injektionsnadel und sehr präzise Anweisungen“.

Estelle warnt Felix, dass die Minister vorhaben, das Programm „Bildung durch Literatur“ nach der Besichtigung zu beenden.

„Es ist bereits beschlossene Sache. Bei der offiziellen Bekanntgabe werden sie das Programm als Luxus bezeichnen, als einen Angriff auf die Brieftasche des Steuerzahlers, ein Kuschen vor den liberalen Eliten. Sie werden behaupten, es belohne kriminelles Verhalten. […] Sie werden sagen, sie hätten sich die Sache vor Ort angesehen, ihr jede Chance eingeräumt, aber unter dem Strich sei sie den Einsatz nicht wert.“

Felix versichert Estelle, dass er wisse, wie sich der Plan durchkreuzen lässt, und sie verspricht ihm jede Unterstützung.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


 

Spoiler

Am 13. März ist es so weit: Die Gäste treffen am Haupttor der Justiz­vollzugs­anstalt ein. Sebert Stanley, der Minister für Veteranenangelegenheiten, hat sich den Ministern Sal O’Nally und Anthony Price angeschlossen. Außerdem gehören Sal O’Nallys Sohn Frederick und Lonnie Gordon, der Vorsitzende des Makeshiweg-Festivals, zum Tross.

Von Estelle weiß Felix bereits, dass Freddie O’Nally seinen Abschluss an der National Theatre School machte, aber auf Verlangen seines Vaters keine Schauspieler-Karriere anfangen darf, sodern Jura studieren soll.

Nach dem Passieren der Sicherheitsschleuse, wo sie die Handys in Verwahrung geben müssen, werden die Minister und ihre Begleiter von einer Gruppe verkleideter Häftlinge empfangen. Das interaktive Stück beginnt.

„Willkommen, Gentlemen, alle“, spricht der Anführer. „Willkommen auf dem guten Schiff Tempest, an dessen Bord Sie sich nun befinden. Ich bin der Bootsmann, und das sind meine Matrosen. Wir bringen Sie übers Meer zu einer einsamen Insel.“

Während Estelle mit dem Gefängnisdirektor nach oben geht, um sich das von Felix und seiner Truppe gedrehte Video anzusehen, führen der Bootsmann und die Matrosen die VIP in einen Saal, wo ihnen alkoholfreie Getränke gereicht werden. Dann geht das Licht aus. Sal O’Nally bekommt noch mit, wie sein Sohn aus dem Raum gebracht wird. Schüsse sind zu hören. Ein Gefängnisaufstand? Haben die Häftlinge Freddie ermordet? Oder benutzen sie ihn als Geisel?

Freddie O’Nally findet sich in einer Gefängniszelle wieder. Er befürchtet, dass die Häftlinge seinen Vater und die anderen Minister umbringen. Anne-Marie Greenland kommt zu ihm und erklärt ihm, dass der Regisseur sie beide in „Der Sturm“ als Miranda und Ferdinand, Sohn des Königs Alonso von Neapel, besetzt habe:

„Es gibt hier einen Verrückten. Er ist verrückt wie ein Hund bei Vollmond. Er hält sich für Prospero. Nein, ich meine wirklich. Er inszeniert den Sturm neu, und du bist Ferdinand. […] Du musst dich unbedingt an das Skript halten. Ich habe dir den Text gebracht, deine Stellen sind hervorgehoben. Hier, sprich einfach deinen Text, dort drüben unter der Glühbirne, damit er dich hören kann. Sonst dreht er womöglich durch. Er ist ziemlich jähzornig.“

Freddie deklamiert:

Fünf Faden tief dein Vater liegt,

Sein Skelett wird zu Koralle […]

Die drei Minister und Lonnie Gordon werden durch einen unbeleuchteten Flur in eine andere Gefängniszelle geführt. Die Deckenleuchte flammt auf.

Während Sal O’Nally und Lonnie Gordon einschlafen, weil in dem Ginger Ale, das sie zur Begrüßung bekamen, Barbiturate aufgelöst waren, versucht Tony, seinem Kollegen Sebert Stanley einzureden, er brauche nur seinen Gegenkandidaten Sal O’Nally zu töten, um die Wahl zum Parteivorsitzenden zu gewinnen.

„Hätten wir zweihundert Jahre früher, würden wir dieses Chaos nutzen, Sal loswerden und den Aufständischen die Schuld in die Schuhe schieben. Oh, und wir würden uns auch Lonnie vom Hals schaffen müssen: keine Zeugen.“

Als Beispiel führt Tony sich selbst an:

„Wenn mir jemand im Weg steht, räume ich ihn eben beiseite. So bin ich nach oben gekommen. Ich habe damals Felix Phillips aus dem Weg geräumt, als ich noch beim Makeshiweg-Festival war. Das war die erste solide Sprosse auf meiner Leiter.“

Nachdem Sal O’Nally und Lonnie Gordon wieder zu sich gekommen sind, schwingt die Tür auf. Vorsichtig gehen die vier Männer durch den beleuchteten Korridor in einen anderen Raum, in dem Weintrauben auf dem Tisch stehen. Bis auf Lonnie Gordon kosten alle davon, ohne zu ahnen, dass Felix Halluzinogene in die Trauben injiziert hat, deren Wirkung rasch einsetzt und nur kurz anhält.

Red Coyote und TimEEz treten als Stephano und Trinculo auf.

„Fischige Monster“, sagt Red Coyote. „Ich rieche, rieche … Korruption!“

Dann ist Leggs als Caliban an der Reihe:

Ihr nennt mich Monster

Aber wer ist das größere Monster hier?

Ihr schmiert, stehlt, lügt und betrügt […]

Trolle führen die vier Männer zurück in den Saal, wo Felix mit Aplomb hinter der Leinwand hervortritt. Prospero trägt den für die vor zwölf Jahren geplante Aufführung angefertigten Zaubermantel aus Hüllen von Plüschtieren. Sal O’Nally fragt: „Bist du echt?“ Tony fängt sich als Erster und stöhnt: „Effekthascherisch wie immer!“

Felix droht mit der Verbreitung der Video- und Audio-Aufnahmen der Minister im Internet – einschließlich Tonys Geständnis und Anstiftung zum Mord. Er stellt seine Forderungen: Vom Justizminister erwartet er, dass er sich anschließend in der Öffentlichkeit anerkennend über die kreative, interaktive Theateraufführung äußert. Tony soll noch eine fünfjährige Garantie für eine erhöhte finanzielle Förderung des Programms „Bildung durch Literatur“ abgeben und dann als Minister abdanken. Außerdem verlangt Felix die Festspiel-Leitung zurück und eine vorzeitige Haftentlassung des in der Rolle des Ariel für die Spezialeffekte verantwortlichen Technikers 8Handz.

Vor dem abschließenden Empfang beim Direktor wird Sal O’Nally noch zu der Gefängniszelle geführt, in der Ferdinand und Miranda bzw. Freddie und Anne-Marie miteinander Schach spielen. Die beiden haben sich auch in Wirklichkeit verliebt. Dem Vater, der froh ist, seinen Sohn lebend wiederzusehen, bleibt nichts anderes übrig, als die Romanze ebenso zu akzeptieren wie Freddies Wunsch, sich an Anne-Maries Seite als Schauspieler zu versuchen.

Beim Direktor, der von der Parallelvorstellung nichts ahnt, sind Komplimente über die Schauspieltruppe zu hören, und man sichert ihm eine Erhöhung der Fördergelder zu.

Die Leitung des Makeshiweg-Theaterfestivals übernimmt Felix nur offiziell. Die Entscheidungen überlässt er zunehmend seinem Assistenten Freddie O’Nally und der Chefchoreografin Anne-Marie Greenland.

Er wird seinen Stab zerbrechen, wird sein Buch ins Wasser werfen, denn es ist an der Zeit, dass jüngere Leute das Ruder übernehmen.

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Anlässlich des 400. Todestages von William Shakespeare bat der 1917 von Leonard und Virginia Woolf gegründete Verlag The Hogarth Press einige Schriftsteller um Neuerzählungen zu Werken von William Shakespeare:

 

Wer „Der Sturm“ oder den Film „Prosperos Bücher“ von Peter Greenaway nicht kennt, sollte vielleicht zunächst Margaret Atwoods Zusammenfassung der Handlung der Shakespeare-Komödie am Ende des Buches lesen („Der Sturm. Das Original“), denn wenn man die Anspielungen auf das Original erkennt, vergrößert sich das Lesevergnügen.

Mit vielen witzigen Einfällen hat Margaret Atwood die Handlung des Bühnenstücks „Der Sturm“ in ihrem Roman „Hexensaat“ nach Kanada und in die Jahre 2001 bis 2013 verlegt. Statt auf einer abgeschiedenen Insel spielt „Hexensaat“ großenteils in der Isolation eines Gefängnisses. Bei den meisten Darstellern handelt es sich um Häftlinge, aber auch einige andere Personen – darunter drei Minister – werden unfreiwillig mit einbezogen. Wie bei einer Matrjoschka-Puppe verschachtelt Margaret Atwood dreimal den gleichen Plot ineinander: Zum einen lebt der Protagonist Felix Philipps nach seiner Entlassung aus Theaterregisseur und Festspielleiter wie Prospero zwölf Jahre lang als Eremit mit seiner Tochter Miranda. (In „Der Sturm“ wächst sie in dieser Zeit zu einem 14 Jahre alten Mädchen heran; in „Hexensaat“ lebt sie nur noch in der Fantasie des Vaters.) Wie Prospero sinnt Felix auf Rache und nutzt dafür das Theater bzw. die Illusion. Felix führt dabei gleich zwei verschiedene Inszenierungen parallel auf.

Durch Doppelung eine Illusion zu schaffen – einer der ältesten Tricks aus dem Theaterrepertoire.

Er studiert ein Stück ein, und in diesem Stück ist noch ein weiteres enthalten.

Originell ist es auch, wenn Ariel in „Der Sturm“ von einem Hochstapler verkörpert wird, also von einem Menschen, der anderen etwas vorgaukelt.

Margaret Atwood nutzt „Hexensaat“ nicht zuletzt, um das heutige Regietheater satirisch zu spiegeln.

Im Prolog nimmt sie den Beginn der entscheidenden Aufführung des Stücks „Der Sturm“ vorweg.

[…] Die Kamera zoomt auf ein Spielzeugsegelboot, das auf einem blauen, mit Fischen bedruckten Plastikduschvorhang auf und abgeworfen wird. […]

Am Ende geht sie über William Shakespeare hinaus: Da denkt Felix Philipps mit den Häftlingen, die in „Der Sturm“ mitgespielt haben, darüber nach, was aus den verschiedenen Figuren des Stücks geworden sein könnte.

„Hexensaat“ ist ein amüsanter Roman voller Esprit.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Albrecht Knaus Verlag

William Shakespeare: Der Sturm

Margaret Atwood (Kurzbiografie / Bibliografie)
Margaret Atwood: Lady Orakel
Margaret Atwood: Der Report der Magd (Verfilmung)
Margaret Atwood: Katzenauge
Margaret Atwood: Der blinde Mörder
Margaret Atwood: Moralische Unordnung
Margaret Atwood: Das Zelt
Margaret Atwood: Die Zeuginnen
Margaret Atwood: Penelope und die zwölf Mägde

Andrzej Stasiuk - Die Welt hinter Dukla
"Die Welt hinter Dukla" ist kein Roman mit einer Handlung, sondern eine Sammlung von Episoden und Erinnerungen, Beobachtungen und Beschreibungen, wobei sich die Miniaturen zu einem poetischen Ganzen fügen.
Die Welt hinter Dukla