Joan Aiken : Die Kristallkrähe

Die Kristallkrähe
Originalausgabe: The Crystal Crow, 1967 Die Kristallkrähe Übersetzung: Helmut Degner Diogenes Verlag, Zürich 1974 Süddeutsche Zeitung / Kriminalbibliothek Band 42, München 2006, 251 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Ärztin Eleanor Foley eröffnet ihrem jüngeren Bruder Charles als Ergebnis einer medizinischen Untersuchung, dass er an einer unheilbaren und in Kürze zum Tod führenden Herzkrankheit leidet. Sie kaufen einen Bauernhof in Cornwall, wo Charles die letzten Monate seines Lebens verbringen möchte. Eleanor stellt ihrer Freundin und Kollegin Magda Tassák die Kate auf dem Anwesen zur Verfügung und duldet dort notgedrungen auch Magdas junge Freundin Aulis ...
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Kritik

"Die Kristallkrähe" ist ein unterhaltsamer Roman, der am Ende zu einem spannenden und zugleich abstrusen Thriller mutiert.
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Ohne eine große Sache daraus zu machen, lässt sich die junge Ich-Erzählerin Aulis, die mit siebzehn den Roman „Leichte Verletzung“ veröffentlichte, während einer Zugfahrt von einem Mitreisenden – einem Second Lieutenant der US-Air-Force namens Wallace („Wal“) – deflorieren. Ihre zwölf Jahre ältere, eifersüchtige Freundin Magda („Maggie“) Erzehet Tassák, eine aus Ungarn stammende Ärztin, mit der sie zusammen in London wohnt, sieht ihr an, was geschehen ist und entrüstet sich über die „Herumhurerei“ ihrer Lebensgefährtin, die sie übrigens nicht Aulis, sondern Dienstag nennt. Um zu verhindern, dass Aulis und Wal ein Paar werden, nimmt Maggie eine Einladung ihrer gleichaltrigen Freundin Eleanor („Nell“) Foley an und fährt für einige Wochen mit Aulis nach Cornwall.

Nell ist eine Ärztin Mitte dreißig wie Maggie. Nachdem sie ihrem jüngeren Bruder Charles Foley als Ergebnis einer medizinischen Untersuchung mitgeteilt hatte, dass er an einer unheilbaren Herzkrankheit leide und innerhalb von zwölf Monaten mit seinem Tod rechnen müsse, kauften sich die beiden den aus einem Wohnhaus, einer Kate, Schuppen und Scheunen bestehenden Bauernhof „Watertown“ in Lanrith, einem Fischerort in Cornwall, wo Nell die Praxis eines Landarztes übernahm. Die Kate stellt Nell ihrer Freundin Maggie – und notgedrungen auch Aulis – zur Verfügung. Und bald darauf kommt auch Maggies seit zwei Jahren verwitweter Freund John Fitzroy aus London zu Besuch.

Charles überredet seine fünf Kilometer von Lanrith entfernt in ihrem Haus „Khartoum“ wohnende Tante Julia, seine langjährige Freundin Claire Dean vorübergehend bei sich aufzunehmen, damit sie in Ruhe nach einem Bauernhof suchen kann, denn die Sportjournalistin, die ein gutes Stück älter als Charles ist, träumt davon, sich nach Cornwall zurückzuziehen.

Nin, eine alte Frau, die Nell und Charles den Haushalt führt, beobachtet missbilligend, dass die Ärztin abwechselnd Beruhigungs- und Aufputschmittel nimmt [Designerdrogen]. Die Eltern des Geschwisterpaares sind seit fünfzehn Jahren tot: Der Vater, ein Arzt, war alkoholkrank und fuhr außerdem zu schnell, als er die Kontrolle über das Fahrzeug verlor und zusammen mit seiner Frau tödlich verunglückte. Nell, die ihn nie hatte leiden können, kann ihm bis heute nicht verzeihen, dass er ihre geliebte Mutter tötete. Hin und wieder glaubt Nell, Karl spräche zu ihr. Der drei Jahre jüngere Wiener Psychiater, ihre große Liebe, hatte kein Hehl daraus gemacht, dass er nur an einem sexuellen Abenteuer interessiert gewesen war.

Charles hatte auch kein Glück in der Liebe. Seine Braut Zita ertränkte sich im Meer, als sie mit Charles und dessen Schwester in Italien Urlaub machte.

Als Aulis‘ Mutter Vanessa schreibt, sie halte sich ein paar Tage in London auf, fährt die junge Schriftstellerin mit Claire und John hin, um sie nach sechs Jahren zum ersten Mal wieder zu sehen, doch an ihrer Tür hängt eine Nachricht, aus der hervorgeht, dass Vanessa schon wieder weitergereist ist. John geht mit der enttäuschten jungen Frau essen – und anschließend lässt sie sich trotz ihres schlechten Gewissens überreden, mit ihm ins Bett zu gehen.

Weil John in London bleibt und Claire noch zwei Wochen in der Stadt zu tun hat, nimmt Aulis den Zug für die Rückkehr nach Cornwall, wo sie Maggie beichtet, was geschehen ist.

Inzwischen ist aus einem in der Nähe gastierenden drittklassigen Zirkus ein Leopard ausgebrochen. Kurze Zeit später wird die Leiche von Mrs Lannick im Wald gefunden. Der Leopard hat ihr das Genick durchgebissen, und Nell – die von der Polizei gerufen wird – kann nichts mehr für sie tun. Peter Lannick glaubt jedoch, die Ärztin habe sich nicht genügend beeilt und sei deshalb schuld am Tod seiner Mutter. Weil Mrs Lannick seit dem Tod ihres Mannes dauernd betrunken war, hatte ihr unglücklicher Sohn seinen Dienst bei der Marine aufgeben und einen Job als Arbeiter in einer Baufirma annehmen müssen, damit er sich um sie kümmern konnte.

Charles gerät außer sich, als er die Knochen seiner von dem Leoparden gerissenen Ferkel liegen sieht. Jemand muss die Tür zum Schweinepferch geöffnet und die Tiere ins Freie gelassen haben. Mit einem für die Großwildjagd gedachten Gewehr, das er sich bereits von Colonel Pascoe besorgt hatte, macht Charles sich auf die Suche nach dem Raubtier und erlegt es.

Während Nell den durch den Tod seiner Mutter verstörten Peter Lannick beschuldigt, die Ferkel herausgelassen zu haben, behauptet dieser, er habe gesehen, wie die Ärztin im Obstgarten furchtlos an dem Leoparden vorbeigegangen sei und die Tür des Schweinepferchs geöffnet habe. Inspektor Jake Pollard glaubt natürlich nicht Lannick, sondern Dr. Foley und nimmt den Arbeiter fest, der ihm allerdings auf dem Weg zum Revier entkommt.

Als das Haus „Khartoum“ in Flammen steht, rettet Charles seine Tante Julia aus einem Fenster, aber sie stirbt im Krankenhaus. Aulis fällt auf, dass in jedem nicht verbrannten Buch mehrere Fünf-Pfund-Noten wie Lesezeichen stecken. Die schrullige, liebenswerte alte Dame hat also vermutlich ihr Geld nicht einer Bank anvertraut, sondern in ihren Büchern versteckt. Bei der umfangreichen Bibliothek, die sie besaß, dürfte ein beträchtliches Vermögen in Rauch aufgegangen sein.

Aulis will zu Fuß nach „Watertown“ zurückgehen. Unterwegs wird sie von Nell eingeholt und, obwohl sie sich mit dem Rücken gegen eine Steinmauer presst, beinahe von deren Auto erfasst. Während Aulis noch überlegt, was das zu bedeuten hat, kehrt Nell um. Aulis versucht, sich durch einen Sprung auf einen Baum zu retten, wird aber von dem Fahrzeug am Fuß getroffen und verliert das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kommt, sitzt sie neben Nell auf dem Beifahrersitz: die Hände mit Heftpflaster gefesselt und der Mund verklebt. Nell erzählt ihr, sie habe Charles‘ Braut durch die erlogene Diagnose einer unheilbaren Krankheit in den Suizid getrieben. Mit ihrem verhassten Bruder hat sie ähnliches vor. Er ist kerngesund. Aus Wut auf Tante Julia zündete sie deren Haus an. Sie erklärt Aulis, sie werde so lange mit ihr durch die Gegend fahren, bis alle die Brandstelle verlassen haben, sie dann dort töten und verbrennen. Dann habe sie endlich alle aus dem Weg geräumt und könne ungestört mit ihrer Freundin Maggie zusammen sein.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

An der Stelle, an der Tante Julias Haus stand, wartet Lannick mit dem Gewehr, das er Charles inzwischen gestohlen hat, auf die Ärztin, die er für den Tod seiner Mutter verantwortlich macht und die ihn durch ihre Falschaussage hinter Gitter bringen wollte. Inzwischen erschoss er Maggie, die er mit der Ärztin verwechselte, weil sie sich deren Regenmantel mit Leopardenmuster ausgeliehen hatte. Aulis nutzt die Chance, wetzt die Heftpflasterfesseln an einer scharfen Metallkante durch und flieht, muss sich dabei aber wegen des gebrochenen Fußes auf zwei Holzpfosten wie auf Krücken stützen. Bevor Lannick schießen kann, zündet Nell seine Kleidung an und verfolgt dann Aulis, die zum Viadukt hinaufgestiegen ist. Dort kommt es zum Kampf zwischen Nell und Lannick. Beide stürzen in die Tiefe.

Ihre Leichen werden erst nach einer Woche gefunden. Die Polizei nimmt an, der wohl durch den Tod seiner Mutter verrückt gewordene Lannick habe Julia Foleys Haus angezündet und sich dabei schwere Verbrennungen zugezogen. Nach Dr. Tassák habe er auch noch Dr. Foley und die junge Schriftstellerin umzubringen versucht und sei dabei selbst ums Leben gekommen. Aulis lässt die Leute in dem Glauben, denn Lannick hat keine Angehörigen mehr, und Charles will sie die Wahrheit über Nell ersparen.

Aulis verlässt Cornwall, um zu ihrer derzeit in Griechenland lebenden Mutter zu reisen. Sie liebt Charles und weiß, dass er ihre Gefühle erwidert, aber Nell hätte immer zwischen ihnen gestanden.

Im Zug liest sie in der Zeitung, dass John bei einem Gull-Rennen auf dem Atlantik in einen Sturm geriet und ums Leben kam.

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Der Titel „Die Kristallkrähe“ bezieht sich auf eine chinesische Figur, die Maggie als Andenken an ihre seit 1955 verschwundene Mutter aufbewahrte und wütend aus dem Fenster warf, als Aulis sie nicht als Versöhnungsgeschenk annehmen wollte (S. 47, 49f).

Erzählt wird die Geschichte abwechselnd in der dritten Person Singular und von Aulis in der Ich-Form. Zwei oder drei Szenen werden auf diese Weise aus zwei verschiedenen Perspektiven beleuchtet.

Der Roman beginnt verhältnismäßig harmlos mit alltäglichen Spannungen, gegenseitigen Verletzungen, Lügen und Unstimmigkeiten, von denen Joan Aiken eher beiläufig erzählt. Erst in der zweiten Hälfte des Buches kündigen sich Verbrechen an, und auf den letzten fünfzig Seiten ändert sich die Atmosphäre immer stärker, bis sich die Ereignisse regelrecht überschlagen.

„Die Kristallkrähe“ ist ein unterhaltsamer Roman, der am Ende zu einem spannenden und zugleich abstrusen Thriller mutiert.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006/2007

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