Ursula Ackrill : Zeiden, im Januar

Zeiden, im Januar

Ursula Ackrill

Zeiden, im Januar

Zeiden, im Januar Originalausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015 ISBN: 978-3-8031-3268-0, 253 Seiten, 19.90 € (D)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In einem Vortrag am 21. Januar 1941 im Rathaus von Zeiden appelliert Andreas Schmidt, der Führer der deutschen Volks­gruppe in Rumänien, an den Patriotismus der Zuhörer. Danach lässt er Leontine Philippi holen, eine alleinstehende 53-jährige Frau, die den Verblendeten und Opportu­nisten, Karrieristen und Profiteuren unter ihren Landsleuten illusionslos gegenüber­steht. Während er von ihr wissen möchte, wo sich der verschollene Flugpionier Albert Ziegler aufhalten könnte, durchsuchen seine Männer ihr Haus. Leontine weiß, dass sie nicht in Zeiden bleiben kann ...
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Kritik

Ursula Ackrill porträtiert in "Zeiden, im Januar" Siebenbürger Sachsen, die mit dem Nationalsozialismus konfrontiert werden. Dabei strebt sie keinen unterhaltsamen Erzähl­fluss an, sondern reiht Schlaglichter aneinander. Auch mit der gewählten Kunstsprache macht sie es den Lesern nicht leicht.
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Leontine Philippi wird 1888 als sächsische Patriziertochter in Kronstadt geboren. 1906 bis 1911 studiert sie Geschichte in Wien und befasst sich in dieser Zeit auch mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Einer der Männer, die sie umschwärmen, ist der gleichaltrige, in Zeiden als Sohn eines armen Bauern zur Welt gekommene Albert Ziegler, der seinen 20. Geburtstag in London feiert, sich seit 1906 im Ausland mit Flugzeugmotoren beschäftigt und 1913 in Siebenbürgen als Pilot bejubelt wird. Leontine lässt sich mit dem Flugpionier, der sie gern heiraten würde, allerdings nur auf eine kurze Affäre ein.

„Komm zu mir“, hatte Albert zu ihr gesagt, die ersten Worte, die er an sie richtete, seit er zurückgekehrt war. Doch Leontine war am Morgen in den Zug nach Freck gestiegen, sie hatte genug vom Kronstädter Lärm und Wirbel um das bevorstehende Fest, bei dem Albert seine große Idee an Kapitalanleger vermitteln sollte, etwas mit Flieger chartern zum Vergnügen oder zum Transport. Er hatte zwei Schauflüge am Morgen getan, nachdem die Sonne den Herbstnebel weggebrannt hatte, über Berg und Tal in glänzenden Primärfarben, hatte sich am Tag festlich empfangen lassen und sollte am Nachmittag die Finanziers im Hotel Krone unterhalten.

Immerhin kauft Leontine Albert Zieglers Elternhaus und zieht gegen Ende des Ersten Weltkriegs nach Zeiden. Das Haus ihrer eigenen Eltern in Kronstadt vermietet sie.

In den Dreißigerjahren nimmt Leontine auf Ersuchen des Anstreichers Joan Tatu dessen 1924 in Zeiden geborene Tochter Maria auf. Das Kind lernt bei ihr Deutsch und hilft als Gegenleistung im Haushalt. Anders als Leontine stammt Maria aus armen Verhältnissen. Sie, ihr Vater, ihre schwindsüchtige Mutter und ihr kleiner Bruder schliefen in ihrer Wohnung in Bukarest zu viert in einem Bett.

Befreundet ist Leontine mit dem zwei Jahre jüngeren Arzt Franz Herfurth. Er wurde in Kronstadt geboren, wuchs aber als Sohn eines Geistlichen im Pfarrhaus Blumenau auf. Nach dem Abitur am Gymnasium Johannes Honterus in Kronstadt studierte er von 1909 bis 1914 Medizin in Budapest. Während des Ersten Weltkriegs blieb er in Budapest und betätigte sich als Arzt in einem Krankenhaus.

Herfurth hatte seine Studien abgeschlossen, als der Weltkrieg begann, aber sein Vater befahl ihm, in Budapest zu bleiben, arrangierte es, dass er sich dort im Krankenhaus nützlich machen konnte.

Danach wollte er zunächst in Kronstadt eine eigene Praxis eröffnen, aber 1928 zog er als Schularzt nach Zeiden.

Als Herfurth 1928 nach Zeiden umzog aus seinem heimatlichen Kronstadt, mehr als ein Jahrzehnt nach Leontine Philippi, führte er ein bequemes Junggesellenleben.

Am 11. Juli 1940 besucht er Leontine zum letzten Mal, und sie geben sich nicht einmal mehr beim Streiten Mühe.

Während Franz Herfurth die Beziehung mit Leontine Philippi beendet, wendet er sich Edith Reimer zu. Sie wurde 1898 in Zeiden geboren. Ihr Vater, ein Apotheker, der sich 1928 der nationalsozialistischen Erneuerungsbewegung in Siebenbürgen anschloss und das Geschäft seiner Tochter überließ, propagiert die Euthanasie, nimmt aber den in der Apotheke Hilfsarbeiten verrichtenden Dorftrottel Joseph ausdrücklich davon aus:

„Kinder, Kinder, die Euthanasie beseitigt nur Ballastexistenzen, die uns auf der Tasche liegen und verbrauchen. Joseph ist ein braver Junge, er arbeitet fleißig und hilft unserer Edith.“

Edith […] führte das Geschäft ihres Vaters seit Jahren so gut wie eigenhändig. Ihrem Vater gelang es inzwischen eine Niederlassung der I. G. Farben in Zeiden zu gründen, aber er blieb weiter fern, im Reich Verträge schließend, in Siebenbürgen der Volksführung beistehend, als es galt, Deutschland mehr Soldatenmaterial zu überführen. Aus väterlicher Zuneigung bekam Edith ab und zu eine Ladung Ungewöhnliches fürs Geschäft zugestellt: Ambergris, Angostura, Johannisbrot, Kassiarinde, getrocknete Mammuthoden aus dem Neandertal. Mit den etikettierten Kisten stolperte Joseph, ihr Knecht und Dorftrottel designatus, durch Haus und Hof in die Scheune, weil er dabei buchstabierte und lachte, dass es ihm die Beine wegschlug. Man sagte, Edith hätte ihm notgedrungen das Lesen beigebracht. In der Schule hatte sich Joseph nur passager aufgehalten, wenn der gereizte Lehrer ihn nicht gerade wieder nach Hause abkommandiert hatte. „Joseph, geh und putz dir die Zähne!“, „Joseph, geh und wasch dir den Hintern!“

Edith bedient sich des acht Jahre jüngeren Dorftrottels auch im Bett.

Eine Zeit lang muss sie geglaubt haben, dass die Lust, die man sich eigenhändig zufügt, die beste ist. Dann überraschte Joseph sie. Sein Ejakulat unerwartet heiß in ihr, Magma aus einer Tiefe, nach der keiner fragt. Sie wird ihn kaum angerührt haben. Sich weich durchhängend ganz seinen Sinnen überlassen haben. Warum Joseph? Warum nicht Herfurth? Jeden Mittag, das wird ihm jetzt klar, wenn Edith den Laden schließt, nimmt sie den Joseph in ihr Bett. Dann blättern sie in den Atlanten ihres Vaters und kichern, Trostmann und Trostfrau, über den Bildtafeln botanischer oder anatomischer Querschnitte von Organen mit lateinischen Unterschriften, in einem Nest von Leinen und Papier. Denn Herfurth hat sie nicht zu trösten gewusst. Er war einer der Männer, die Edith hungrig angingen, sie wie eine lebendige Auster auszuschlürfen, und von ihr geringer als von einem Wirbeltier dachten.

Edith Reimer war von Leontine Philippi zunächst kaum beachtet worden.

„Ich kann mich darauf nicht besinnen“, sagt Leontine und ebnet das wollene Tuch ihres Kleides. Wann war sie mit Edith bekannt geworden? Leontine hatte die junge Frau nur flüchtig bemerkt, bevor Herfurth nach Zeiden kam und um sie zu werben begann. Ediths Vater mischte zuerst bei der Selbsthilfebewegung mit, die ab 1928 mit Hakenkreuzen und Programm „selbstloser, gemeinnütziger Arbeit“ den Sachsen Hoffnung auf bessere Zeiten machte, wechselte dann zur radikaleren Splittergruppe der Deutschen Volkspartei Rumäniens über, die nun sowohl den alten Volksrat als auch die Selbsthilfe beiseite geschoben hat und de facto Berlin direkt untersteht. Seine Tochter war Leontine damals kaum aufgefallen. Sie hatte eine schlechte Haltung. Das merkte man, unter den strammen Jugendlichen. Sie führte mit den Lauschern, wie die Goldmarie mit dem gebeutelten Schürzchen führt.

Im September 1940 betritt Leontine noch einmal ihr früheres Elternhaus in Kronstadt, in dem die deutsche Volksgruppenführung ihr Hauptquartier eingerichtet hat. An der Fassade hängt eine übergroße Hakenkreuzfahne. Einer der Männer bietet ihr einen Sessel an und sagt:

„Sie sind erstens ewiggestrig, zweitens verdammt ungerecht: Sie wissen nicht, was es bedeutet, ein Auskommen zu verdienen, wenn der Ertrag von heute auf morgen entscheidet, ob die Familie das Nötige zusammenbekommt. Man hat uns genug über den Tisch gezogen. Wir können nur mithilfe einer gewissen Biegsamkeit des Gewissens über die Hindernisse hinwegkommen. Die uns mit der Absicht in den Weg gelegt werden, uns unterzukriegen. Lernen wir etwas von unseren rumänischen Konkurrenten.“

Leontine hält mit ihrer kritischen Haltung gegenüber der Judenverfolgung nicht zurück.

„Also“, krächzte Leontine […], „mir ist Ihr Begriff von Deutschsein noch grün. Ich kenne aber die Geschichte unseres Volks hier in Siebenbürgen. Es geht uns gegen den Strich, dass wir uns auf die Seite der Vielen schlagen und den Wenigen in den Rücken fallen. Denn wir haben erlebt, was es heißt, wenn die Vielen die Wenigen plagen. Ich sag nicht, dass wir uns den Enteignungen widersetzen; das ist eine Politik, an der wir nichts ändern können. Aber wäre es nicht passender, uns herauszuhalten?“
„Das gefällt Leuten wie Ihnen, die von Haus aus Fabriken besitzen! “ Die Häme schlug ihr aufs Gemüt.
„Wir sind aber eben nicht in Deutschland. Wären wir in Deutschland, könnten wir in Sachen Antisemitismus ohne Vorlage alles mitmachen, wir wären eins mit der breiten Masse, Arier gegen Nicht-Arier. Hier in Siebenbürgen ist es nicht so einfach: Sind Rumänen Arier? Sind Ungarn Arier? Die haben nämlich versucht, uns fertigzumachen, uns aus der Geschichte und der Landschaft auszuradieren. Nicht die Juden und Zigeuner, die haben uns nichts getan, die hatten auch nie das Sagen über uns. Wir sind eben selbst eine Minderheit und wer auch immer politisch am Zug ist, kann uns leicht unter Druck setzten, weil wir so anders sind. Wir sind eben nicht in Deutschland …“ Leontine war versucht, eine Hutnadel auszuzupfen und sich die Kopfhaut damit zu kratzen. Sie hatte es unterlassen, den Hut abzulegen. Gesten, die sich in der Diele dieses Hauses reflexartig aufdrängten, zensierte sie äußerst vorsichtig. Nun aber Haltung wahren und nicht nachgeben. „Das Argument der Deutschen und Rumänen ist, dass eine Minderheit Fremder ihr Volk betrogen und ausgebeutet hat, und ihre Maßnahmen gegen die Juden seien gerechte Vergeltung. Unser Argument ist, dass wir eine Minderheit Fremder sind, deren Ehre unbescholten ist. Wo bleiben wir, wenn uns dieses Argument abhanden kommt?“

Während sich Maria Tatu bei ihrer Mutter in Bukarest aufhält, lädt der jüdische Händler Oskar Brick sie am 19. Januar 1941 in seinem Geschäft im Stadtteil Lipscani auf eine Tasse Kaffee ein und bietet ihr das Du an. Er kauft den Juden, die auswandern wollen, die Habseligkeiten ab und übernimmt auch den von der Rumänisierungs-Kommission requirierten Plunder. (Die wertvollen Stücke erhält SS-Sturmbannführer Kurt Geißler, der Sonderbeauftragte der Sicherheitspolizei in Bukarest, der sie weitergibt, um wichtige Leute zu bestechen.) Aufgrund des Überangebots sind für die Hinterlassenschaften der Juden allerdings kaum noch kostendeckende Preise zu erzielen.

Nicht die Geschäftsleute und Industriellen unter den Sachsen erwecken ihren Argwohn so unvermittelt wie die Gelehrten. Es ist nachvollziehbar, dass man gaunert, wenn der Staat die Strafe dafür erlässt. Die Sachsen, die den Juden ihre Geschäfte abnehmen, wobei sie den Spottpreis der Rumänisierungs-Kommissare überbieten, meinen vielleicht sogar, sauber gehandelt zu haben. Der Jud wäre ohne ihr Zutun mit noch weniger, oftmals mit nichts, abgefertigt worden! Und die armen Sachsen müssen wieder mehr blechen, um ihr Recht zu bekommen. „Immer nur bestraft werden wir. Immer nur …“

Oskar Bricks Sohn soll Rechtsanwalt werden. Seine Töchter hatte er als Buchhalterinnen im Bukarester Außenbüro des führenden Petrochemiekonzerns untergebracht, aber als der ehemalige Wiener Bürgermeister Hermann Neubacher zur deutschen Gesandtschaft in Bukarest versetzt wurde, entließ der Konzern in vorauseilendem Gehorsam alle Jüdinnen.

Am 20. Januar begegnet Maria Oskar Bricks Sohn im Treppenhaus.

Weil der Junge nuschelte, hörte er sich vertraulicher an, als beabsichtigt. Er nuschelte, weil Blut in seinem Mund schneller zusammenquoll, als er schluckte. […] Da gaben die Beine unter ihm nach. Maria fasste rasch seinen Rücken aber ihre Hand glitt aus und mit dem Hemd zusammengerafft hoch. Sie prallten hart auf die Treppenstufen, und als Maria versuchte, ihn aufzurichten, sah sie, dass sein Rücken ein Rinnsal war, glatt vom Blut aus einer Schusswunde im Nacken.

Am nächsten Morgen kehrt Maria mit der Bahn nach Zeiden zurück.

Währenddessen geht Franz Herfurth ins Waldbad von Zeiden.

Vorbei am Haus der Liebhaberin des Doktor Petersberger, der eigentlich privat über der Apotheke gewohnt hatte, aber im Haus dieser Frau gestorben war. Als die Gemeinde ihn mit Nichtachtung strafte, war er zum Glück schon morsch im Kopf. Er gestand jedem, der’s hören wollte, was für einen gesunden Körper seine Schakerakerin hatte, bis er tot von ihr weggeschafft wurde.

Franz Herfurth erinnert sich an ein Gespräch mit seinem früheren Mitschüler und Kommilitonen Fritz Klein. Der wurde 1888 in Zeiden geboren. Seine früh verwitwete Mutter zog ihn und sechs Geschwister auf. Den Lebensunterhalt verdiente sie als Putzfrau. Fritz Klein praktiziert als Arzt in seiner Heimatstadt und gehört dem Vorstand des Männerchors an. Über die Nationalsozialisten sagte er zu seinem Kollegen:

„Die Nazis haben den steilen Aufstieg gewählt. Das ist ohne Gewalt, meinetwegen Brutalität, nicht zu machen. Es fällt dir bestimmt nicht leicht, zu verstehen, dass sie die Arbeiterpartei sind. Du mit deinen Bürgerrechten, mit deiner Leontine Philippi, die mir weismachen wollte, dass Gewalt die Gewalttäter degradiert. Ihr habt keine Ahnung, was es bedeutet, eine Gesellschaft, in der man akzeptiert wird, zu Lebzeiten in Aussicht gestellt zu bekommen. Ihr habt eure bürgerliche Satisfaktion seit Generationen. Die Nazis wollen eine Entwicklung, die in hundert Jahren unvermeidlich eintreten würde, heute, hier, für uns verwirklichen. Die Germanen werden dominieren. Ja, wir beschleunigen den Lauf der Geschichte und einigen von uns wird schwindelig davon. Stellen wir uns nicht so an! Warum nicht wissenschaftlich, ja chirurgisch vorgehen, und das schwächende Geschwür vom Körper der Nation entfernen? Erst die Blutgefäße abbinden, dann kommt das Messer dran. Heilen ist brutal, das sollte dir doch einleuchten!“

Unlängst wurde Franz Herfurth von der Volksführung über Leontine Philippi und Albert Ziegler befragt.

Er sagte ihnen offen seine Meinung zum Klatsch über das andere Zeidner Ass, den Aviatiker. Es war gewiss kein Unfall, dass Alberts Flieger unter den Beschuss der Deutschen kam – von wegen, irrtümlich! Er hebt einfach nur so ab, in seiner ältesten Maschine, von diesem stillgelegten Aerodrom in der Picardie … und dann fehlt jede Spur von ihm. Nicht einmal wo die Absturzstelle war, weiß man. Dabei kannte Albert die Gegend gut, hatte sich doch als junger Mann zwei volle Jahre dort herumgetrieben. Maschinen eingeflogen für eine Firma in Paris. Unzweifelhaft für Herfurth, dass Albert keine Absicht hatte, sich den deutschen Truppen anzuschließen.

Leontine sucht am Nachmittag des 21. Januar 1941 Edith in der Apotheke auf. Edith, die gerade erst vom Skifahren zurückkam, sagt:

„Ich verstehe nichts mehr. Mein Vater will, dass ich Broschüren aus Deutschland für Siebenbürgen bearbeite. Zur Hebung der gesundheitlichen Lebensführung. Ich soll alle diese Rezepte nachkochen und unserer Küche anpassen, denn Sparsamkeit hilft siegen. Marmeladen mit wenig Zucker, ohne Apparate und so. Aber wenn wir sparen, wenn wir selbst so wenig haben, wie ernähren wir die vielen Gefangenen, die wir machen? Mein Vater erzählte mir von Zügen voll Leuten – was brauchen wir so viele Gefangene? Wenn Deutschland siegt, geht es uns besser, aber warum müssen wir unsere Verrückten umbringen?“

Dass Edith Joseph einen Schein besorgt hat, der ihn vom Militärdienst freistellen soll, hält Leontine für einen Fehler:

„Du denkst nicht weit genug. Dass dein Vater mit Nazis verkehrt, ist seine Sache. Es ist aber dein Fehler, dass du Joseph diesen Leuten vor die Füße laufen lässt. Es ist deine Eitelkeit, zu denken, dass du ihn beschützen kannst. Du hast gehört, was die Nazis vorhaben.“

An diesem Abend, am 21. Januar 1941, findet im Rathaus von Zeiden ein Vortrag statt. Andreas Schmidt, der 28-jährige Führer der deutschen Volksgruppe in Rumänien, will den Bürgern klarmachen, wie wichtig der Sieg des Deutschen Reichs für sie ist.

Andreas Schmidt wird heute Abend seine Überzeugung vortragen, dass wir uns Deutschlands Sieg zum Anliegen machen müssen als wären wir Reichsdeutsche Patrioten, denn unser Schicksal als Prominenz Südosteuropas hängt vom ritterlich versehenen Kriegsdienst für Deutschland ab. Er stolziert auf und ab, erster Pionier, der den Bezug zwischen Rumäniendeutschen und Macht auf dieser Welt wieder herstellte. Wir sind dann wieder wer, sofern noch welche von uns übrig bleiben, wenn Deutschland siegt.

Schmidt tut einen raschen Schritt vorwärts. Etwas in seiner Bewegung zieht die Blicke auf ihn. „Es besteht kein Grund zur Sorge“, sagt er laut und klar. „Die Rumänen sehen in uns eine treu verbündete Volksgruppe. Was auch immer mit der jüdischen Minderheit geschieht, wir müssen bedenken, dass sie Verräter der Nation sind, heimatlose Freibeuter mit Großkapital weltweit. Wir nicht. Wir sind jetzt die zweite Nation im Land, wichtige Partner – ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber seit die Wehrmachttruppen bei uns stationiert sind …“, es kitzelt und man lebt auf. Die Stimme Schmidts küsst die Geister wach, dass man sich rekelt und streckt. Er lässt nicht locker.

Im Sommer 1940 stellte Rumänien 1060 Männer für die Waffen-SS ab. Hans Otto Roth erhielt dafür die Garantie, dass keine weiteren Rekrutierungen von Rumäniendeutschen in reichsdeutsche Einheiten stattfinden würden. Während Andreas Schmidt im Rathaus-Saal redet, untersuchen allerdings Franz Herfurth und Fritz Klein in einem der anderen Räume 19-Jährige, die sich in Wien zur Waffen-SS melden wollen, um dem Kriegsdienst in der rumänischen Armee zu entgehen.

Der Bankdirektor Misch Foith meldet sich zu Wort:

„Wie kommt es nur her, dass Sie, Herr Schmidt, unsere Militärs durch das Nadelöhr Bukarest befördern müssen, damit sie ins deutsche Heer kommen?“
„Was soll die Frage, Herr Foith?“
„Sie sagen uns, wir stehen und fallen mit Deutschland. Aber sehen Sie, Deutschland heißt uns, in der rumänischen Armee dienen. Lässt uns nicht einmal in die Wehrmacht ein, nur in die Waffen-SS, was auch immer das ist. Und dafür müssen Sie Bukarest noch speziell um Erlaubnis bitten. Bis auf weiteres leben wir in Rumänien!“ Laute Buhrufe kommen aus allen Richtungen. Foith schreit: „Was soll aus uns werden, Herr Schmidt, wenn Sie die Rumänen gegen uns aufbringen?“

Während der Volksgruppenführer spricht, wird sein Pressechef Walter May ans Telefon gerufen. Kurz darauf kehrt May zurück, richtet aus, dass Geißler mit Schmidt reden wolle und übernimmt den Vortrag.

Gegen 20 Uhr wird Leontine Philippi aufgefordert, sich bei Andreas Schmidt zu melden. Als sie das Büro im Rathaus betritt, spricht er noch am Telefon. Unaufgefordert setzt Leontine sich. Da sie rumänische, sächsische, jüdische und ungarische Zeitungen liest, weiß sie, dass es um die Unruhen in Bukarest geht. Der rumänische „Staatsführer“ Ion Antonescu entmachtet mit Billigung Hitlers, den er am 14. Januar in Berlin traf, die Eiserne Garde. Nachdem Schmidt aufgelegt hat, sagt er:

„Es ist eine Katastrophe.“ […]
„Weiß man, wie viele Tote?“
„Was für Tote? Ach, Sie meinen die Juden. Keine Information vorläufig. Nein, der Gesandte, von Killinger. Ist ein SA Mann.“ Leontine nickt. „Verstehen Sie? Der wird grundsätzlich alles, was uns passt, verhindern wollen. Vor Antonescu wird er den Gentleman spielen und die Nase rümpfen über den Blutrausch der Legionäre, pfui pfui, die Rumänen, hart im Nehmen. Geißler ist kein Von, er wird von seinem Schmerbauch beschwert, und seine Berliner Schnauze ist in dieser Lage kein rechtes Mittel zum Zweck.“ Leontine nickt. Man hat sich vertan. Auf das wilde Pferd gesetzt. Gott bewahre vor der Waffenbruderschaft der Rumänen. Darauf lieber verzichten. Sie nickt und betrachtet Schmidt lange. Geißler war sein Eintrittspass zur Gesandtschaft.

Wenn Geißler beseitigt wird, zieht er Schmidt mit hinunter. Von Killinger wirft ihm die Tür vor der Nase zu. Und Schmidt kommt nur über die Gesandtschaft an Antonescu heran. Und nur über Antonescu kann er der Waffen-SS Soldaten zuliefern. Das Fließband darf nicht stehen bleiben, sonst wird der Betrieb Andreas Schmidt stillgelegt. Dieser arbeitet aber nur mit Gewinn, wenn er Soldaten seinem Gönner und zukünftigen Schwiegervater Gottlob Berger nach Deutschland zuführt. Alles andere ist relativ. Sogar den Verlust seiner Contenance in Siebenbürgen und Banat kann er in Kauf nehmen, wenn nur die Macher in Berlin, Berger, Heydrich, wer weiß wer noch, ihn für verwendbar halten.

Als der Volksgruppenführer Leontine rät, vorerst nicht nach Hause zu gehen, ahnt sie, dass seine Männer ihr Haus durchsuchen. Andreas Schmidt leugnet es nicht:

„Ich habe mich, wie gesagt, erkundigt. Sie haben keine Kinder, keinen Mann und keine Eltern mehr. Das ist rar. Es macht Sie ziemlich unangreifbar. Wir überzeugen am leichtesten, wenn wir Leute vor die Wahl stellen, ihre Kinder auf die rumänische Schule zu versetzen. Sie können nicht wissen, welch ein Heulen und Zähneklappern!“ Schmidt zündet sich eine Zigarette an.

„Wir hatten guten Grund nachzuschauen. Wie gesagt, Sie haben keine Bindungen zur Gemeinde, niemanden, aber trotzdem springt man mit Ihnen hier um wie die Waldestiere mit dem Ortsheiligen, bringt Ihnen Leckerbissen vorbei als wär’s Tribut. Und obwohl Sie im Felde des Geistes arbeiten, wie man behauptet, denn Sie haben seit Ihrer Jugend nichts mehr öffentlich gemacht, weiß niemand so richtig, wes Geistes Kind Sie sind. Das, Sie werden’s einsehen, können wir nicht erlauben!“

„Wir geben Ihnen eine Gelegenheit, uns die Treue zu halten.“

Auf Leontines Frage, was er von ihr erwarte, will er von ihr wissen, wo sich der vor einiger Zeit nach einem Start in der Picardie verschwundene Pilot Albert Ziegler versteckt habe.

„Ich habe mit Albert seit über zwanzig Jahren nicht gesprochen „, erklärt Leontine vorsichtig, wie man schlechte Nachrichten gibt. Es ist die Wahrhaftigkeit in ihrer Stimme, der die beiden ausweichen, wittert Leontine und fasst sich. Ich weiß einfach, was er sieht, wenn ein Bild durch ihn fährt, sehe ich es, gelegentlich, unerwartet. Ich weiß aber nicht, was er denkt.
May schüttelt den Kopf, irritiert. „Sie weiß, wo er ist.“ Leontine sieht von einem auf den anderen. Sie ist verblüfft. Das ist der Ausgang, merkt sie sich. Sie haben mich aus meiner Geschichte gepresst. Nimm den Ausgang: Natürlich weißt du, wo Albert liegt.
„Es gab ein Gerücht, er soll abgeschossen worden sein, aber man kann nicht alles glauben, was heute kolportiert wird.“

„Leontine. Es geht um Leben und Tod. Die Deutschen haben ihn abgeschossen, er war in seiner komischen Maschine, wenn die ihn kapern und vors Kriegsgericht stellen, dann feilschen sie nicht herum wie wir hier heute Abend, die knallen gleich los. Er kann sich fusselig reden, ein Niemand in Zivil – wer wird ihm glauben, dass er einfach nur so abgehoben hat und nicht über den Ärmelkanal wollte!“
„Ja. Sie haben ein Problem, meine Herren“, sagt Leontine langsam und zieht beide Schultern hoch, höher und nimmt sie zurück, dass ihr Gerippe in allen Fugen kracht. „Sie wollen diesen Albert Ziegler für Ihre Zwecke ausnützen und brauchen Information von mir, um ihn zu finden. Aber Sie haben Gewalt ins Gespräch gebracht.“
„Was macht sie?“, fragt May verständnislos in den Raum. Schmidt winkt ab, mit dem faszinierten Ausdruck eines Jägers, dessen Beute in einen Tanzschritt verfällt.
„Ich bin eigentlich froh, dass Sie mich zu erpressen versuchen. Lassen Sie, warum die Dinge nicht beim Namen nennen? Ich habe mich immer gefragt, wie Erpressung überhaupt funktionieren kann. Wie soll das klappen?“ Leontine stellt die Frage gierig, mit halboffenem Mund auf eine Antwort wartend. Aber die Männer schweigen.
„Es klappt nur, wenn ich Ihnen glaube, dass Sie mich dann mit der angedrohten Exkommunikation verschonen werden. Aber warum sollte ich einem Mann trauen, der mich bedroht? Erpressung funktioniert, wenn das Opfer dem Erpresser glaubt, dass er das Angedrohte unterlässt. Aber warum – wissen Sie’s denn? – soll das Opfer dem Erpresser Vertrauen schenken? Sie haben mich bedroht, Herr Schmidt. Sie haben mir dadurch erklärt, dass meine Wohlfahrt Ihnen bedeutungslos ist. Was aus meinem Leben wird, schlecht oder recht, hat für Sie keinen Wert. Sie haben somit Ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt.“
„Wieso denn?“
„Es ist ganz einfach. Wenn ich eine genaue Anschrift für Sie hätte, was garantiert mir, dass Sie mich nicht gleichwohl den Wölfen zum Fraß vorwerfen? Sie können das nicht mehr garantieren. Sie haben sich verraten. Ich weiß jetzt, es kostet Sie nichts, mich zu zerstören.“ Sie sieht auf ihre Armbanduhr. Es ist spät. Schmidt und May sitzen nebeneinander mit passiven Schultern wie ihre jungen Zuhörer in der Zeit, als sie noch Geschichten erzählte.

Auf dem Weg vom Rathaus zu ihrem Haus wird Leontine gegen 21 Uhr von Franz Herfurth angesprochen. Sie weiß, dass sie nicht in Zeiden bleiben kann, und er sagt:

„Ich habe mit dem Leutnant gesprochen. Welcher morgen die Rekruten ins Reich einschleust. Wenn du mitwillst, niemand wird dich etwas fragen.“ Sie wendet sich wortlos ab.

Zehn Minuten später taucht Maria, die krank aus Bukarest zurückgekehrt ist, bei Leontine auf.

Maria schafft gerade einen Halbspagat über eine Moränenlandschaft von Materie, die sie zu sortieren bemüht ist. Sie fährt Leontine an, kopflos und mit Irrlichtern in den Augen: „Wenn du schon packen willst, warum lässt du mich nicht holen?“ und zeigt gekränkt auf die Haufen Kleider und Papiere auf dem Fußboden verstreut.
„Hatten wir nicht abgemacht, dass du im Bett bleibst, Maria?“
„Wie denn, kaum bin ich zu Hause und heize die Räume, dass ich mich hinlegen kann, da klopft dieser Joseph von der Apotheke an … ich verstehe kein Wort, er sagt, bei dir sei Licht, aber du bist im Rathaus, man müsste nachsehen … er war gerade noch da … er muss sich versteckt haben.“
„Ich werde Joseph jetzt hereinrufen und er soll dich nach Hause begleiten, du gehörst ins Bett bevor das Fieber noch steigt.“
„Nicht geh weg.“

Nachdem Leontine die von ihr heimlich verfasste Chronik der Stadt Zeiden und andere Papiere in einer Schatulle im Garten vergraben hat, macht sie sich reisefertig.

Sie hat einen Rucksack gepackt und trägt selbst Alberts Konfirmandenanzug – guter Kammgarn von der Weberei ihres Oheims Scherg – und Alberts hohe Stiefel, vom Schuster auf Maß gearbeitet. Sie sieht sich im Nebel vor Morgengrauen in Richtung Bahnhof eilen, es ist zu dunkel, um den Zeidner Glockentum noch einmal zu sehen, sie ist eine graue Gestalt, zu der mehr und mehr Gestalten stoßen, Jugendliche, stur dem Tag entgegenstierend.

In dem Viehwagen, in dem Leontine mit 19-Jährigen Richtung Wien fährt, wird sie aufgefordert, die Gruppe mit einer Geschichte zu unterhalten. Leontine erzählt von einer Bauerntochter, die beim Abendessen an einer Speckschwarte erstickt, während ihr Ehemann im Wirtshaus sitzt. Man beerdigt sie, aber zwei fahrende Studenten, die es auf Goldzähne abgesehen haben, graben sie nachts wieder aus.

Einer stieß ihr ein Knie in den Rücken, damit der Kopf zurückfallen konnte, der andere sollte ihren Kiefer aufstemmen. Auf einmal fährt die Leiche zusammen, hustet kräftig und spuckt etwas Widerwärtiges aus ihrem Rachen.

Die Räuber flüchten. Die Frau kommt zu sich und geht frierend nach Hause, aber ihr Ehemann hält sie für ein Gespenst und lässt sie nicht ein. Ebenso ergeht es ihr bei den Eltern. Da besinnt sie sich auf den ärmeren der beiden Männer, die um sie warben und den sie im Gegensatz zu ihren Eltern als Ehemann bevorzugt hätte. Der öffnet ihr sofort die Tür, zündet ein Feuer an, wickelt sie in eine Decke und wärmt eine Suppe für sie auf.

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Siebenbürgen (Transsilvanien) ist ein Landstrich in den südlichen Karpaten, in den ab Mitte des 12. Jahrhunderts Siedler aus Flandern, aus dem Maas-Mosel-Gebiet und vom Mittelrhein geholt wurden. Die Bezeichnung „Siebenbürger Sachsen“ ist wohl dadurch zu erklären, dass die überwiegend deutschen Siedler lateinisch „Saxones“ genannt wurden. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts scheiterte das Vorhaben des Deutschen Ritterordens, in Siebenbürgen einen eigenen Staat zu errichten. Im Zuge der Gegenreformation wanderten Protestanten nach Siebenbürgen ein, weil dort Glaubensfreiheit herrschte. Siebenbürgen gehörte lange Zeit zu Ungarn; nach dem Ersten Weltkrieg wurde es Rumänien zugesprochen.

In ihrem Debütroman „Zeiden, im Januar“ porträtiert Ursula Ackrill die Siebenbürger Sachsen in der Zeit des Nationalsozialismus. Es ist kein schmeichelhaftes Bild, das sie skizziert: Wir begegnen vor allem Verblendeten und Opportunisten, Karrieristen und Profiteuren. Sie kontrastierten mit der Hauptfigur Leontine Philippi, die das Treiben illusionslos beobachtet.

Was den Sachsen mangelt, denkt Leontine, ist indigene Selbstverständlichkeit. Dass wir endlich einmal nicht mehr rechtfertigen, unsere Existenz erklären und Meldung erstatten müssen, wer wir sind, wie wir hergekommen sind, wieso wir leben wollen, so wie wir wollen, wieso wir uns unterstehen, hier zu leben.

Der Kern der Handlung – wenn man überhaupt von einem Plot sprechen kann – spielt am 21. Januar 1941 in Zeiden. Was an diesem Tag geschieht, schildert Ursula Ackrill in zahlreichen Fragmenten, immer wieder unterbrochen von Rückblenden. Dass diese mal nur wenige Zeilen, mal mehrere Seiten langen Schlaglichter allesamt mit Orts-, Datums- und minutengenauen Zeitangaben versehen sind, hilft nur auf den ersten Blick bei der Orientierung, denn auch innerhalb der Bruchstücke sind Flashbacks eingefügt, die nicht immer leicht einzuordnen sind. Einen unterhaltsamen Erzählfluss strebt Ursula Ackrill überhaupt nicht an; im Gegenteil, sie zerhackt auch kurze Episoden und verzichtet in dem Vor und Zurück von Momentaufnahmen konsequent auf Übergänge. „Zeiden, im Januar“ ist in vier Kapitel gegliedert – und beginnt mit dem letzten, also mit dem Ende.

Es fällt schwer, bei der Lektüre den Überblick zu behalten. Dass „Zeiden, im Januar“ nicht leicht zu lesen ist, liegt auch an der von Ursula Ackrill gewählten Kunstsprache.

Die Sonne kämpft gegen die grauen Hüllen an, ein dampfender Knödel aus der Ursuppe.

Die Röte Ediths pulsiert in ihre Extremitäten.

Edith schreckt auf und senkt ihren Blick sofort, bringt ihre Lauscher näher.

Herfurth lugte im Vorbeigehen in ein Glas, das ausgetrocknete Pilze zu enthalten schien. Als sie ihm gezeigt hatte, wie man die Schelle knebelt, hatte sie auf Zehenspitzen auf seinen Schuhen gestanden, ihre Achselhöhlen betaut mit frischem Schweiß. Dill und Anis.

Das Bett ist lauwarm, aber als Leontine sich wendet, ortet ihr Bauch die wärmste Mitte des Bettes und brütet sie.

Ihre Füße trockneten sich auf dem Handtuch am Boden, das graue Leintuch mit der gelegentlichen Flachsfaser drin umfasste schlapp ihre Haut und glich allmählich die Kälte ihrer Extremitäten mit der Wärme ihrer verschmusten Schamlippen aus.

Sein Lächeln stach Edith, die nicht aufsah, ihre Arme aber mit Gänsehaut überzog. Capesius wusste, ohne hinzusehen, wie ihre Brustspitzen aus entspannter Glätte sich fest zusammenballten.

Im Morgengrauen hört sie einen Motor in der Ferne mit Lärm anspringen, und die ganze Garnitur von Schlafenden im Pfarrhof, wo sie bei Licht besehen eingebrochen wäre, bei Nacht jedoch elfenbeinig eindrang, dreht sich gleichzeitig im Schlaf von einer Seite auf die andere und ächzt.

Ihr Pelzmantel schlingerte und rollte ihre Figur vorwärts über den vereisten Gehsteig. Waden voll Wasser, kippt sie doch ruckartig bald links bald rechts, ihr Hut heutzutage eine komische phrygische Filzmütze mit obligatem räudigem Makartbukett seitlich dran.

Und doch, als sie die Klinke hinunterdrückte, schlug Leontines Gegenwart unmissverständlich an ihre Schläfen, wie ein Luftzug, und Marias Innereien, von Übernächtigung verätzt, rückten sich zurecht. Womit soll man beginnen.

Kann man mutmaßlich so treffsicher zielen? Da stand sie aber, vor dem Herd, mit ihrer schmelzenden, glasigen Quittenmasse, die vermutlich ins Zinnoberrote schlägt. Fritz hält ihn für eine Memme, die Stadt lacht ihn aus, die Welt kullert sich um die Sonne, nur weil er sich aus diesem nuptialen Dilemma nicht befreien kann.

Einige Passagen in „Zeiden, im Januar“ sind so verschwurbelt, dass man ratlos zurückbleibt:

Fast ließ er jeder eine persönliche Bürgschaft zurück, er würde allezeit in Abwesenheit so gut oder besser. Und erst die Ledigen. „Aber dafür haben wir doch den Stein da, im Kirchhof, mit der Kette.“ „Ida, endlich!“, man lachte. „Ja“, erzählte weiter die Apothekerin Edith, unverfroren schulterzuckend, „ich habe gehört, der Andreas Schmidt soll nichts anbrennen lassen, ob alt, ob jung, er kann eben gut.“

Die Rechtsbriefe der Obrigkeit von gestern bedeuteten von heute auf morgen nichts. Weshalb Sachsen wie Waldtiere nach dem Winterschlaf aus ihren Festungen krochen und blindlings den Weg zum Regierungssitz fanden, wenn eine stabile Zeit einkehrte, um sich die Rechtsbriefe von jeder neuen Obrigkeit in ihrer neuen Sprache bestätigen zu lassen. Vergeblich. Ohnnütz. Oben, über den Wogen der aufeinanderfolgenden Belagerungen, Seuchen, Brände, Requisitionen, Kasernierungen, Agrarreformen, Zwangseinquartierungen wenden die Wetterhähne gemächlich auf den Turmknöpfen der siebenbürgischen Glockentürme. Sie haben genug gesehen. Spätestens seit der österreich-ungarische Eroberer Kronstadts sich am Ende des 17. Jahrhunderts vom Rat der Stadt keineswegs Paroli bieten lassen wollte. Seine kriegsdürre Geduld brannte ihm durch, man hatte hier nicht zu verhandeln, man hatte ihm hier nicht mit deutschen Mahnrufen kommend, auf lateinische Pergamenter zu pochen. Seine Geduld brannte ein Loch durch seinen Panzer, und die Kronstadt ging auf in Flammen als wäre sie Zunder.

Die Stadt Zeiden im Burzenland, 20 Kilometer westlich von Kronstadt (Braşov) gibt es tatsächlich. Sie heißt heute Codlea. Auch bei einigen Romanfiguren in „Zeiden, im Januar“ griff Ursula Ackrill auf Personen aus der Realität zurück: Albert Ziegler, Fritz Klein, Victor Capesius, Andreas Schmidt und Walter May, Kurt Geißler, Hermann Neubacher, Hans Otto Roth, Ion Victor Antonescum Gottlob und Christa Berger.

Ursula Ackrill wurde 1974 in Kronstadt (Braşov) geboren. Ihre Mutter ist Rumänin, ihr Vater gehört der deutschsprachigen Minderheit der Siebenbürger Sachsen an. Klaus Johannis, der Ende 2014 zum rumänischen Staatspräsidenten gewählt wurde, hatte Ursula Ackrills in Physik unterrichtet. Sie studierte in Bukarest Germanistik und Orthodoxe Theologie und promovierte 2003 an der University of Leicester über Christa Wolf. 2005 erwarb Ursula Ackrill auch noch einen Master in Informationsmanagement. Während sie in Nottingham als Bibliothekarin arbeitete, schrieb sie den Roman „Zeiden, im Januar“ und schickte das Manuskript unverlangt dem Verlag Klaus Wagenbach in Berlin. Ursula Ackrill schaffte es damit aus dem Stand auf die Shortlist zum Preis der Leipziger Buchmesse 2015.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

Andreï Makine - Das französische Testament
"Das französische Testament" ist ein ruhiger, poetischer Roman mit einer Fülle einprägsamer Bilder und ergreifender Miniaturen, nur wenigen freudigen und vielen traurigen Passagen. Beim Verweben der Elemente beweist Andreï Makine ein sicheres Gespür für den richtigen Rhythmus.
Das französische Testament